Kunst sehen

Gabriele Hiller

Die Tonbandaufzeichnungen der vor rund 25 Jahren im Saalbau Witten gehaltenen Kunst-Vorträge von Michael Bockemühl bilden die Grundlage dieser Veröffentlichung. Die ersten drei Bände von »Kunst sehen« über »Die Malerei des 19. Jahrhunderts«, zu Claude Monet und zu Paul Gauguin liegen seit dem Frühjahr 2018 vor, Band 4 und 5 sind in Vorbereitung.

Bedarf es überhaupt weiterer Kunstbücher über so weitgehend erforschte und in zahllosen Büchern dokumentierte Maler und Bildhauer wie beispielsweise Claude Monet, Paul Gauguin, Pablo Picasso oder Alberto Giacometti? Ist nicht heute das Bedürfnis wesentlich größer, sich die Originale selbst anzuschauen, anstatt darüber zu lesen? Wer so fragt, befindet sich bereits auf einem Holzweg, denn außer einem sich Zeit und Ruhe nehmenden unbefangenen Blickes bedarf es zu einem tiefer gehenden Kunstverständnis meiner Erfahrung nach auch oft eines ermutigenden Wegweisers, des geschulten und »anderen Augenpaares«, wie es Peter Handke in der »Lehre der Sante Victoire« formuliert, das mir ermöglicht meine eigenen Einseitigkeiten und blinden Stellen zu überwinden. Kunstwerke sind komplexe »Sinntotalitäten« im Sinne des spätmittelenglichen Wortes »onement«, das eine wesenhafte physisch-seelisch-geistige Einheit bezeichnet, eine Sinn-Ganzheit, die sich dem geduldigen Betrachter oft erst über einen langen Zeitraum in ihren tieferen Dimensionen erschließt – wenn überhaupt.

Die Verfasserin hatte das Glück, Michael Bockemühl mehrfach in Seminaren zu erleben und hat ihn als einen Türöffner, ja als einen intensiven und geistreichen Befähiger auf ihrem eigenen Weg zum Kunstverständnis hoch geschätzt, in dessen Gegenwart man über sich hinauswuchs. Nach seinem frühen und unerwarteten Tod 2009 ist dieser Weg zumindest äußerlich abgeschnitten.

Nun haben David Hornemann van Laer, der bei Bockemühl promovierte und an der Universität Witten/Herdecke an der Fakultät für Kulturreflexion lehrt, und mehr als zwanzig seiner Studenten begonnen, diese Vorlesungen in Buchform herauszugeben. Zuvor hatte Hornemann seit 2014 mehrere Seminare abgehalten, in denen kleine Studentengruppen sich mit Inhalt und Rede-Stil dieser Darstellungen befasst hatten. Im Kollektiv wurde entschieden, die Ausführungen seien auch 25 Jahre später für angehende junge Kunstwissenschaftler so wegweisend, dass eine Veröffentlichung für Wert gehalten wurde.

Die Reihe der behandelten Künstler reicht von Michelangelo über zahlreiche Künstler der klassischen Moderne bis zu Positionen heutiger Kunst, mit Schwerpunkt auf der Zeit bis Mitte des 20. Jahrhunderts.

Die bisherigen Bände sind zunächst einmal eine Freude fürs Auge, ein im Dienste der meist seitenfüllenden Abbildungen genügend großes Format und ein das Anschauen unterstützendes Verhältnis von Bild und Text, meist auf einer Seite.

Obwohl jeder der bisherigen Bände, wohl dem Künstler entsprechend, einen anderen Duktus in der Darstellung zeigt, kennzeichnet die Reihe eine einleuchtende durchgängige Gliederung: Zunächst ein Selbstporträt des Hauptkünstlers neben einer seiner Kernaussagen, anschließend ein Vorwort des Herausgebers mit dem Credo Bockemühls »Der Künstler ermöglicht, was der Anschauende verwirklicht«, dann ein Foto, das den Redner in Aktion zeigt. Auffallend erschien mir immer, wenn ich ihn erlebte, eine impulsierende Spannung zwischen seinem mit Anzug, Weste und Schlips korrekten Erscheinungsbild und seiner lebhaften und zupackenden Art. So bilden diese Fotos den Auftakt zu seinen Vorträgen selbst, bei denen der Stil der freien Rede weitgehend beibehalten wurde, was sicher nicht nur für diejenigen ein Genuss ist, bei denen dabei Erinnerungsbilder dieses einzigartigen Redners aufsteigen.

Außer genauen Quellenangaben zu den Bildern befindet sich am Schluss jedes Bandes ein persönliches, die Wirkung der Vorgehensweise Bockemühls Vorlesung reflektierendes Nachwort der an der jeweiligen Ausgabe beteiligten Studenten.

Bereits die drei vorliegenden Bände enthalten eine höchst differenzierte Auffächerung und Genauigkeit dessen, was der Umgang mit Kunstwerken dem heutigen Betrachter, und damit auch Leser dieser Bücher, bedeuten kann: »... die Entdeckung, dass man die Lebenswelt, also die Welt der Sinne, ansatzweise mit Bewusstsein durchdringen kann ... Die Kunst birgt die Chance, die Welt der Sinne als eine Welt des Geistes und nicht als etwas Entfremdetes, Fernes und Anderes zu betrachten«. Sowohl die Dimensionen und das Potenzial des Sehvorganges als ein schöpferischer Akt als auch das Verhältnis zwischen Sehen und Verstehen, Wahrnehmung und Erkenntnis werden beim Lesen wie neu geklärt.

Bockemühl entwickelt ein Kunstverständnis am einzelnen Werk, indem er z.B. unter der Fragestellung, wie ein Maler das Abbildhafte zugunsten einer Wirklichkeitserfahrung des Betrachters von Bewegung oder Lichtstimmung durch den Prozess der Anschauung zurücktreten lässt, zunächst ein Werk genauer beschreibt und anschließend eine Gemäldeabfolge dieses Künstlers zeigt. Diese anschauliche und begriffliche Schärfung hilft bei der weiteren Betrachtung, sie führt zu einer Verlebendigung fester Begriffe, wie z.B. dem des Impressionismus und wirkt nie ermüdend, da die Tempi der Verweilung bei einer Sache lebendig variieren. Diese Qualität zeichnet in besonderem Maße den Band über Claude Monet aus.

Da wie bereits erwähnt, jeder dieser drei ersten Bücher sich im Duktus von den anderen unterscheidet, findet diese Erfrischung immer wieder aufs Neue statt.

In Band I befindet sich neben der Vorlesung über die Malerei des 19. Jahrhunderts eine gekürzte Fassung von Bockemühls Beitrag zur Festschrift für Max Imdahl über Caillebottes Realismus, inhaltlich an die Vorlesung anknüpfend, aber in einer elaborierten Fachsprache gehalten, die dem Erfassen stellenweise höhere Widerstände bereitet als die höchst anschauliche mündliche Sprechweise. Dennoch eine Bereicherung.

In Band III über Gauguin mag zunächst erstaunen, dass Bockemühl kaum auf die rätselhaften Motive und Titel seiner Bilder eingeht, dafür erhält man einen neuen Blick auf die Farbe als freien Träger der Einheit des Bildes, in Harmonien, Vibrationen und Intervallen der Musik nahe. 

Die Waldorfschulen sind nach wie vor die einzige Schulform, in deren Curriculum es spätestens ab der 9. Klasse ein Fach wie Kunstbetrachtung (nicht Kunstgeschichte) gibt, in dem die Jugendlichen ihre Wahrnehmungen an Kunstwerken schulen und dabei die Vergegenwärtigung eines Kunstwerkes durch den Sehakt erleben können (»Ich habe das jetzt entdeckt und verstanden!«). Diese Erfahrung ist eine wesentliche Voraussetzung zur Entwicklung einer eigenständigen Urteilsfähigkeit im Erwachsenenalter. Leider bedarf dieses Fach immer wieder der internen und externen Neubegründung und Unterstützung, weil es oft stärker als die sogenannten Hauptfächer von Kürzungen bedroht ist. Es kann keinen besseren Fürsprecher für die evidente Wichtigkeit von Kunstbetrachtung geben als Michael Bockemühl!

Man kann diesem engagierten Herausgeber-Team nur dankbar sein, dass es diesen Schatz gehoben hat und weiter hebt, dem man zahlreiche Leser und Anwender wünschen muss! Vielleicht sogar Abonnenten, denn dadurch wird nicht nur der einzelne Band für den Abonnenten günstiger, sondern die Drucklegung weiterer Bände erleichtert.

Michael Bockemühl: Die Malerei des 19. Jahrhunderts, Band 1, Reihe Kunstsehen, hrsg. v. David Hornemann v. Laer, 94 S.; Band 2: Claude Monet, 78 S.; Band 3: Paul Gauguin, 78 S.; Band 4 (i.V.): Vincent van Gogh, 80 S.; Band 5 (i.V.): Paul Cézanne, 96 S.; Preis je Band EUR 16,80, im Abonnement EUR 14,80 je Band, Info3 Verlag, Frankfurt 2018