Sachbuch

Lernbegleitung und Kompetenzerwerb in der Oberstufe der Waldorfschule

Holger Grebe

Obwohl wir es seit den Anfängen menschlicher Kultur stets tun, neigen wir dazu, den eigentlichen Prozess zu verschlafen und wachen erst bei den Ergebnissen wieder auf. Das Lernen gehört existentiell zur menschlichen Biografie und hat doch ein unbewusstes Moment, das nicht nur Pädagog:innen zu ständiger Auseinandersetzung reizt. So erschien 1996 eine vielbeachtete Studie der UNESCO zur Bildung im 21. Jahrhundert, herausgegeben vom langjährigen EU-Kommissionspräsidenten Jaques Delors, mit dem Titel: Lernfähigkeit: unser verborgener Reichtum. Während die formalen Bildungssysteme, so das Fazit der Studie, dem klassischen Wissenserwerb von Sachverhalten einen Vorrang einräumten und andere Formen des Lernens eher vernachlässigten, rief die UNESCO dazu auf, Bildung ganzheitlich zu begreifen. Die Waldorfpädagogik hat diese Studie vor mehr als 25 Jahren als Bestätigung ihres erweiterten Lernbegriffs begrüßt. Handlungslernen, soziales Lernen und die Herstellung von vielfältigen Lebensbezügen gehörten schon immer zum Leitbild dieser internationalen Bewegung.

Als einer der profiliertesten Expert:innen einer neuen Lernkultur erweist sich der ehemalige Bochumer Lehrer Frank de Vries. Mit seiner neuesten Publikation, die sich als Praxisbuch versteht, legt er ein anregendes Kompendium dessen vor, was in der Waldorfbewegung in den letzten 20 Jahren im Bereich Lernbegleitung und Kompetenzerwerb entwickelt wurde. Das 164-seitige und reich bebilderte Werk, in der Pädagogischen Forschungsstelle beim Bund der Freien Waldorfschulen in Stuttgart erschienen und wie ein Handbuch aufgemacht, gliedert sich in drei Teile:

Zunächst werden die pädagogischen Grundlagen eines erweiterten Lernbegriffs dargestellt. Im zweiten Teil werden dann neue Formen der Leistungsbewertung vorgestellt. Im Zentrum dieses sehr ausführlichen Teils steht – Vorsicht Wortungetüm - das Abschlussportfolio-Kompetenzfeststellungsverfahren, das die Rudolf-Steiner-Schule Bochum seit 20 Jahren unter wissenschaftlicher Begleitung und mit Hilfe professioneller Zertifizierung entwickelt und in der Schulbewegung verbreitet hat. Im Fokus steht das Bemühen, die Fülle der schulisch und außerschulisch erworbenen Kompetenzen sichtbar zu machen. Die Jugendlichen selbst machen dies anhand eines systematisch aufgebauten Abschlussportfolios. Der dritte Teil Aus der Praxis für die Praxis will den Waldorfkollegien Mut machen, das Instrument des Abschlussportfolios und das Konzept der Lernbegleitung durch Informationsveranstaltungen und Workshops kennenzulernen und als Baustein in das eigene Schulprofil einzufügen.

Lernen in das Bewusstsein holen

Doch zurück zum Thema Lernen. Viele Pädagog:innen werden über den auf Seite 71 zitierten Befund einer Studie zum Einsatz von Kompetenzportfolios in Waldorfschulen (2010) überrascht sein und ihm nach kurzem Bedenken doch zustimmen: Obwohl die befragten Schüler:innen durch ihre Rolle als Lernende zentral geprägt seien, «ist Lernen für sie offenbar kein Thema und kein Gegenstand bewusster Auseinandersetzung […]. Was in der Unterstufe noch angemessen sein mag – Lernen zu tun, aber nicht zu reflektieren – wird offenbar unbesehen bis in die Oberstufe verlängert: Was, wozu und wie man lernt, ist normalerweise kein Thema.» Wie man den Vorgang des Lernens aus dem Unbewussten  herausführen kann, zeigt de Vries an der Methode der Lernbegleitgespräche eindrücklich. Kann dabei der Blick von Einzelleistungen und Problemen auf Bedingungen des Lernens und die eigene Lernbiografie geöffnet werden? Welche Rolle spielt die Schülerselbstevaluation? Kann das Zeugnis im Rückblick noch einmal pädagogisch nützlich gemacht werden? Worin unterscheiden sich geschlossene zu offenen Fragen? Was sind Grundlagen der eigenen Lernbereitschaft?

Besonders anregend lesen sich Auszüge aus Schülerreflexionen über ihre sich entwickelnde Urteilskraft – etwa zum Landwirtschaftspraktikum (Klasse 9), Feldmessen (Klasse 10), Berufspraktikum (Klasse 11) oder wenn eine Schülerin der zwölften Klasse zurückblickt auf die Themenwahl und den Arbeitsprozess an ihrer Jahresarbeit: Bau und Geschichte einer buddhistischen Stupa (S. 78/79). Wo werden zunächst die praktische und zuletzt eine individualisierte Urteilskraft sichtbar? Die Texte geben Einblick in den Weg vom geführten zum eigenständigen Lernen. Nebenbei wird der Blick geschärft für Kompetenzen jenseits der formalen Unterrichtsfächer. So gibt es auch für die Mitarbeit in der Schüler:innenzeitung oder beim Schüler:innenrat ein Anforderungsprofil und im Beleuchtergutachten oder in einem gut dokumentierten Auslandsaufenthalt können bislang unentdeckte Potentiale aufleuchten.

Selbstkritisch bedenkt de Vries auch die Grenzen moderner Evaluation. So gibt er in einem philosophischen Exkurs, der mit Johann Gottlieb Fichtes Ich-Philosophie beginnt und mit Otto Scharmers U-Konzept endet, zu bedenken, dass der Kern der Persönlichkeit (das Ich) nicht Gegenstand «einer solchen Evaluation» sein könne (S. 91). Außerdem lotet er, psychologisch berechtigt, die Grenze zwischen Selbstreflexion und Selbstbespiegelung aus. Die härteste Nuss in der bildungspolitischen Auseinandersetzung, die de Vries seit Jahren führt, versteckt sich hinter der Frage: Können die Kompetenzportfolios nur Lernergebnisse dokumentieren oder sind sie auch geeignet, Abschlusszeugnisse konventioneller Art substanziell zu ergänzen oder gar zu ersetzen? Anders gefragt: Bestehen Chancen, dass das Abschlussportfolio (der sogenannte Waldorfabschluss) nicht nur in Schweden, sondern auch unter den Vorzeichen deutscher Landesschulgesetze als Hochschulzugangsberechtigung anerkannt wird? Die politische und juristische Debatte rund um das Thema öffentliche Anerkennung wird am Ende des mittleren Teils in gebotener Nüchternheit skizziert. Hinweise aus einem wegweisenden Rechtsgutachten (Pieroth 2004) und aus den derzeit laufenden Gesprächen mit Vertreter:innen der Fachhochschulen und der verschiedenen Landtagsfraktionen in NRW zeigen, dass die Projektgruppe um Frank de Vries auch dicke Bretter bohrt.

So wünscht man dem Praxisbuch von Frank de Vries im Spannungsfeld von Jugendpädagogik und Erziehungswissenschaft, von Vision und Rechtsfragen eine weite Verbreitung – nicht nur in Waldorfkollegien. Der verborgene Reichtum unserer Lernfähigkeit pulsiert ein Vierteljahrhundert nach Jacques Delors auch durch diese Publikation. Möge das Geleitwort von Felix Winter, der das Abschlussportfolio für eine «Neuerung» hält, «die bahnbrechend sein könnte für die Überwindung des […] starren Berechtigungswesens in Deutschland», dazu beitragen, dass auch beim Bohren dicker Bretter die Kraft nicht ausgeht.

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