Sachbuch

Liebesgeschichten

Ute Hallaschka

Die »Liebesgeschichten« stammen aus dem 19. Jahrhundert. Doch die Schauplätze scheinen räumlich und zeitlich viel weiter entlegen. Sie stammen aus der mythischen, sagenumwobenen Welt der Autorin, die 1909 als erste Frau den Nobelpreis für Literatur erhielt.

Was können uns alte Geschichten heute noch sagen? Die Geschichten erzählen von Heldinnen, denn es sind samt und sonders Frauen, um deren Schicksale es hier geht. Sie sind verortet in der schwedischen Provinz und zeigen die Armut und das Elend einfacher Leute, offenbaren die bigotten Ständegesellschaften oder reichen noch weiter zurück in die engen Geschlechterbildgrenzen mythischer Königszeit.

Lesen wir dazu Thomas Mann: »Mit Selma Lagerlöfs epischer Urbegabung verbindet sich eine Reinheit der menschlichen Gesinnung, einer geistigen Güte, die in meinen Augen ihr natürliches Genie doppelt verehrungswürdig macht.« – Aber das muss dann auch ausgehalten werden. Geistige Güte ist nichts für schwache Gemüter. Die Geschichten sind herzzerreißend. Selma Lagerlöf bricht alle Zeitbezogenheit auf mit einem so köstlichen, ironischen und modernen Ton, zugleich schafft sie in diesem sprachlichen Aufbruch einen neuen Innenraum. Der kann betroffen machen – sieh da, das alles ist vielleicht doch nicht so weit von uns weg! Mit ihrer phänomenalen Herzlichkeit ergreift uns die Autorin mit einer Macht, wie es sonst nur das große Kino schafft. Der Unterschied ist, dass wir im Lesen erfahren: Ich kann Bilder schaffen! Aus den Vor- oder Urbildern der Autorin entspringt die imaginative Arbeit des Lesenden. Davon handelt sogar ausdrücklich eine Geschichte. Sie beschreibt den Sprachprozess als Erzählung, als Erfahrung dessen, was das Wort als Vitalkraft in uns vermag. Anders als fertige technische Bilder steht es unserem Zugriff offen, individuelle Anverwandlung ist möglich. Alles, was human schwingt im menschlichen Fühlen, was also fähig ist zum Mitgefühl, das erfährt in diesen Liebesgeschichten eine Auffrischung. Was wir in Zeiten von Shitstorms beinah vergessen – es gibt Licht und Wärme in unseren Gemütskräften. Die geistige Güte von Selma Lagerlöf ist Nahrung für die Wachstumskraft moralischer Phantasie. Wer übrigens etwas vom Leben der Autorin erfahren will, kann die im selben Verlag erschienene ausgezeichnete Biografie lesen.

Selma Lagerlöf: Liebesgeschichten, 196 S., geb. EUR 22,–, Verlag Urachhaus, Stuttgart 2021

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