Macht unsere Bildung dumm?

Bruno Sandkühler

Im »offenen Unterricht«, der sich aus der Grundannahme ergibt, dass Kinder autonom lernen, sieht der Autor »keine Methode, sondern eine Weltanschauung«. So würden die Kinder auf dem Entwicklungsstand von Kleinkindern verbleiben. Gleichzeitig diagnostiziert er bei »der Mehrheit« der Eltern einen Dauerstress und die »Beziehungsstörung der Symbiose«, bei der sie ihre eigenen Erwartungen auf das Kind projizieren. Damit ist die psychoanalytische Richtung vorgegeben: »Die Entwicklungsstufen der Psyche sind immer dieselben; sie sind von der Natur vorgegeben und nicht verrückbar«, und: »ein Kind ist kein kleiner Erwachsener, es kommt auch definitiv nicht als ›kleine Persönlichkeit‹ auf die Welt«. Hier werden Thesen zu Dogmen. Schon der Begriff der »Psyche« bleibt unklar, ebenso wie der der Persönlichkeit, und die »unverrückbaren« Entwicklungsstufen sind selbst in der Psychoanalytik höchst umstritten.

Indem ich das Kind zwar nicht als kleinen Erwachsenen, aber durchaus als kleine, sich entwickelnde Persönlichkeit sehe, kann ich eine Haltung des Respekts einnehmen, aber zugleich der Verpflichtung nachkommen, die Voraussetzungen für seine Entwicklung zu gewährleisten.

Neben diesen entwicklungspsychologischen Aspekten liegt der Schwerpunkt des Buches auf der schulpolitischen Entwicklung mit ihren Vorgaben des »Autonomen Lernens«, der Inklusion, der Digitalisierung und der »Einübung demokratischer Entscheidungsprozesse« von der Kita an. Es ergibt sich das Bild von fragwürdigen »Reformen«, die sich mit Begriffen wie »implementation«, »output standards«, »monitoring« oder »self-evaluation« ein wissenschaftliches Mäntelchen umhängen, aber das Versprochene nicht einhalten können und bei erfahrenen Lehrkräften wenig Akzeptanz finden.

Die Schlusskapitel blicken auf die Eltern, die mit ihrer Erwartungshaltung vielfach ihre Kinder unter einen Druck setzen, dem sie nicht gewachsen sind. Dass man dem mit einer Senkung der Anforderungen nachgibt, wird das Problem ebenso wenig lösen wie die inflationäre Zunahme der Abiturienten (und Studienabbrecher).

Bei der Digitalisierung geht die Fahrt auf dem falschen Gleis noch ungebremst weiter. Winterhoff lehnt eine Früheinführung vehement ab. Dem Argument »Fitmachen für das Berufsleben« stellt er die Humboldtsche Ansicht von der Bildung des Menschen fürs Leben entgegen: »Gibt ihm der Schulunterricht, was hierfür erforderlich ist, so erwirbt er die besondere Fähigkeit seines Berufs nachher so leicht und behält immer die Freiheit, wie im Leben so oft geschieht, von einem zum andern überzugehen.«.

Die Weltgesundheitsorganisation hat gerade festgestellt, dass ein Bildschirm das wirksamste Mittel ist, ein Kleinkind ruhig zu stellen, um dann – sehr zurückhaltend – vor der Digitalisierung der frühen Kindheit zu warnen. Mit seiner Streitschrift »Katastrophe ist gar kein Ausdruck. Über Bildung – heute« kommt Christian Geulen von der Universität Koblenz aus Hochschulsicht zu ähnlichen Ergebnissen wie Winterhoff. Hoffen wir also, dass sich die Bildungsverantwortlichen wirklich eines Besseren besinnen, und Winterhoffs düstere Prognose nicht ganz zur Wirklichkeit wird.

Michael Winterhoff: Deutschland verdummt. Wie das Bildungssystem die Zukunft unserer Kinder verbaut, geb., 224 S., EUR 20,– Gütersloher Verlagshaus, Gütersloh 2019

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