Mechanik – überraschend lehrreich

Jan-Peter Meyn

Der Autor ist Professor für Didaktik der Physik an der Universität Braunschweig. In seinem Fachgebiet besteht Konsens, die Schülerperspektive gleichberechtigt zur Fachperspektive zu stellen. Das ist ein gemeinsames Motiv für den Physikunterricht an staatlichen Schulen und an Waldorfschulen und somit ist das Lehrbuch konzeptionell relevant.

Die andere Frage, ob es auch für die Praxis relevant ist, kann man eindeutig bejahen: Das Buch ist übersichtlich strukturiert und leicht zu lesen. Es beginnt mit den Grundbegriffen Weg, Zeit und Geschwindigkeit. In der fachdidaktischen Literatur wird oft empfohlen, den Alltagsbegriff Tempo vom Fachbegriff Geschwindigkeit zu unterscheiden, was beispielsweise bei der Einführung negativer Geschwindigkeiten nachweislich hilft. Rainer Müller schreibt dazu: »In diesem Buch wird der Begriff Tempo synonym mit Betrag der Geschwindigkeit verwendet – aber nur sparsam und ohne dogmatische Strenge.« Dieser Satz spiegelt die Haltung wieder, mit der das Buch geschrieben ist: Wissenschaftliche Befunde zum Lernen der Mechanik werden vorgestellt, und die Lehrer behalten die Freiheit, damit umzugehen.

Das vierte Kapitel zu den Grundbegriffen der Newtonschen Mechanik beginnt mit der Frage »Axiom oder Gesetz?« Der Autor weicht dem Problem nicht aus, verliert sich aber auch nicht in philosophischen Spitzfindigkeiten. Entsprechendes kann zur Betrachtung von Vorhersagbarkeit und Determinismus zu Beginn des fünften Kapitels gesagt werden. Physik wird für Schüler oftmals besonders interessant, wenn sie an ihre gedanklichen Grenzen kommt. Diese kompakten Abschnitte verschaffen nicht nur einen Überblick, sondern auch eine Grundlage für mögliche Unterrichtsgespräche.

Die Energie kommt erst in der zweiten Hälfte des Buches ins Spiel. Das vorgestellte Konto-Modell ist auch für jemanden, der anders oder gar nicht über Energie spricht, überzeugend. Insbesondere wird die Entwertung der Energie durch irreversible Prozesse direkt im Kontext des Erhaltungssatzes behandelt und nicht – wie oft üblich – als Randthema. Dazu wird aufgezeigt, wie man den Alltagsbegriff Energieverbrauch zum physikalischen Fachbegriff entwickeln kann.

Rainer Müller ist offiziell kein Phänomenologe im Sinne der Waldorfpädagogik, aber er geht mit offenen Augen durch die Welt, wie man an zahlreichen inspirierenden Bildern von Alltagskontexten sieht. Wem ist sonst schon aufgefallen, dass auf dem Firmenschild einer international bekannten Bekleidungsmarke ein Kräftegleichgewicht abgebildet ist?

Insgesamt ist das Buch nicht nur überraschend lehrreich, sondern es macht auch Spaß.

Rainer Müller: Mechanik. Physik für Lehramtsstudierende, Band 1, 209 S., brosch., EUR 39,95, De Gruyter, Berlin 2021