Mystische Demenz

Hella Kettnaker

»Sie hätten mich einfach fragen können: Rose, sind Sie dabei, den Verstand zu verlieren? Ich hätte es ihnen ohne Weiteres sagen können. Das hätte allen viel Ärger erspart.«

So lakonisch stellt Rose ihre Situation dar. Wenn der Leser im Buch bis zu dieser Szene gekommen ist, hält er schon etliche Erzählfäden, ein nahezu undurchsichtiges Gewirr in der Hand, aus dem sich erst nach und nach die Lebensgeschichte der 86-jährigen Rose herauslesen lässt.

Im Pflegeheim am Ende ihres Lebens erinnert sie sich im Beisein ihrer Tochter Harriet noch einmal an ihre Kindheit und Jugend, ihre Ehe und die Jahre als Witwe und Inhaberin eines Blumenladens, alles eingebettet in die Zeit nach dem ersten Weltkrieg. Während ihre Tochter und die Ärzte immer mehr Anzeichen des geistigen Verfalls und der »Entkoppelung« bemerken, empfindet Rose ihre Erinnerungen als konsequent. Sie durchlebt noch einmal viele Begegnungen mit Menschen, die ihren Weg kreuzten, und versucht, die Beziehungen zu deuten. Ich hatte mir gar nicht vorstellen können, wie spannend ein Buch über eine Demenzkranke sein kann, fand mich dann aber mehr und mehr in die Geschichte hineingezogen, wollte wissen, wie es Rose in ihrem Leben weiter ergangen war, und war gleichzeitig verunsichert über die Variationen in ihrer Erinnerung. Dennoch ist es faszinierend, wie einfühlsam die verschiedenen Ebenen der Wirklichkeit für die Menschen diesseits und jenseits dieser gläsernen Wand, der zunehmenden Demenz, beschrieben werden. Nicht nur für Menschen, die mit Demenzkranken zusammenleben oder mit ihnen umgehen, ist es ein erhellendes und hilfreiches Buch.

Richard Scrimger: Meine Seele ein Meer, geb., 271 S., EUR 18,90, Verlag Urachhaus, Stuttgart 2012