Nur ein halbes Herz

Sabine Kristkeitz

Die Lebensgeschichte von Annett Pöpplein, der Mutter eines kranken Kindes, ist die spannendste Autobiographie, die ich seit langem gelesen habe, spannender als ein Krimi. Im Mittelpunkt steht ihr Sohn Jens. Die Geburt verläuft normal. Er ist ein gesundes Kind, über das sich die Familie freut. Nach wenigen Wochen jedoch wird die Diagnose gestellt, Jens habe nur ein halbes Herz, die andere Herzkammer, die für einen gesunden Blutkreislauf notwendig sei, fehle ihm. Nun beginnt eine sechs Jahre dauernde Odyssee zwischen Krankenhaus und zu Hause, zwischen Leben und Tod, Bangen und Hoffen um das Leben und die Gesundheit des Kindes. Mehrere große Herzoperationen muss Jens als kleiner Junge überstehen, die Genesung des Herzens aber bleibt aus. Die letzte schwere Operation gelingt nicht und muss rückgängig gemacht werden, damit Jens nicht stirbt. Er übersteht sechzehn Stunden Operationssaal. Immer an der Schwelle zum Tod schafft es der kleine Junge in den kurzen Phasen zu Hause, das Leben zu genießen. Er geht in den Waldkindergarten, spielt mit seinen Schwestern, klammert sich an sein Leben und seine Mutter.

Seine Mutter muss in dieser Zeit jegliche eigenen Interessen aufgeben, sich rund um die Uhr um ihr Kind kümmern – eine schwere Prüfung für das Familienleben. Mit klaren Worten beschreibt sie ihre Gefühle und die Ängste um ihren Sohn. Monatelang lebt sie mit in der Herzklinik in Gießen, als es Jens zu schlecht geht, um nach Hause entlassen zu werden. Stundenlange Diskussionen mit ihrem Mann, mit den Ärzten, über die medizinischen Risiken oder welches Krankenhaus das Beste ist. Monatelanges Warten auf einen OP-Termin in England. Zweifel darüber, ob sich die Eltern richtig entschieden haben. Jeder Leser, der Kinder hat, kann diese Zweifel nachvollziehen. Von dieser Geschichte ohne übertriebene Sentimentalität ist man gefesselt und von den Emotionen tief berührt.

Die ethischen Fragen werden offen angesprochen. Sind alle medizinischen Versuche gerechtfertigt, ein Leben zu retten? Nur eine Herztransplantation kann das Leben des Kindes noch retten. Aber dafür muss erst ein anderes Kind sterben. Und andere Eltern leiden. Annett Pöpplein stellt sich diesen Fragen und versucht, schonungslos ehrlich sich selbst gegenüber zu sein. Der medizinische Alltag ist im Gegensatz dazu nüchtern. Über die Transplantationszentrale werden die Organe per Computer gelistet und nach Dringlichkeit in alle europäischen Länder verteilt. Aber das ist keine Garantie für ein gesundes Leben. Viele Monate warten die Patienten auf ein Spenderherz und die Gefahr, dass der Körper das fremde Organ abstößt, ist groß. Die Bereitschaft der Deutschen, sich als Spender zur Verfügung zu stellen, liegt bei 15,8 %, weit unter dem europäischen Durchschnitt (30 %). Mir hat das Buch geholfen, über das Thema Organspende tiefer nachzudenken.        

Annett Pöpplein: Das halbe Herz. Eine Überlebensgeschichte. Taschenbuch, kart., 260 S., EUR 14,90, dtv premium, München 2012

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