Ökologie des Mitgefühls

Christian Boettger

Kornberger zeigt in seinem Buch, wie die zunehmende Industrialisierung der Honigernte und die auf wirtschaftliche Effektivität ausgerichtete Bienenhaltung den Bienen alle Kräfte und Entfaltungsmöglichkeiten geraubt haben. Seine eindrücklichen Schilderungen dieser Entwicklung berühren den Leser zutiefst. Es leuchtet unmittelbar ein, dass diese durch und durch kooperativen Wesen Opfer des Konkurrenz-Prinzips werden mussten und sich aufgrund der damit verbundenen Schwächung nicht mehr ausreichend gegen Umweltschädigungen oder z. B. die Varroa-Milbe wehren können. Nur kurz seien hier einige Aspekte genannt, in denen sich das ausdrückt: Die vom Menschen hergestellten Beuten mit rechteckigen Wabenrahmen und vorgefertigten Mittelwänden in Kastenform, anstatt der kunstvoll von den Bienen geformten Waben. Die künstliche Befruchtung der Königin im Labor, anstatt des enthusiastischen Schwärmens der Königin und der vielfachen Befruchtung durch Drohnen, die durch ihre gesammelte Erfahrung die Umweltbedingungen der Gegend weitergeben. Auch wir Menschen erleben zunehmend einen Mitgefühls-Kollaps für andere Wesen und unsere Mitmenschen.

Das Besondere an diesem 150 Seiten starken Buch ist nun aber, dass Kornberger bei der Beschreibung und Analyse nicht stehen bleibt, sondern zeigt, wie ein neuer Denkansatz, die »empathische Imagination«, die in eine Ökologie des Mitgefühls mündet, nicht nur den Bienenvölkern, sondern auch der Tier- und Pflanzenwelt und schließlich auch uns Menschen einen Entwicklungsschritt ermöglichen kann. Denn werden nicht immer mehr Menschen Opfer des Konkurrenz-Paradigmas?

Welches Denken und Lernen ist nötig in einer sich entwickelnden Gesellschaft? Das frage ich mich auch im Hinblick auf unsere Waldorfschulbewegung, die sich oft nicht intensiv genug gegen den Mainstream wehrt. Kornberger entnimmt seine Anregung wieder direkt aus dem Bienenstock und vergleicht die Arten des Schwärmens mit unserem Lernen. Wenn bei den europäischen Honigbienen eine neue Königin geboren wird, zieht die alte Königin mit einem Teil ihres Volkes aus dem Stock aus und überlässt den neuen Kräften ein gut vorbereitetes Gefüge. Die alte Königin schwärmt und sucht sich mit ihrer Erfahrung ein neues Zuhause. Beide Teile setzen sich dem Prinzip der Verjüngung und dem Wandel aus. Das neue Volk ist durch die junge Königin motiviert und das alte Volk bleibt beweglich. Kornberger nennt das neue Lernen »trans-paradigmatisch« und skizziert andeutungsweise einige Anregungen zu seiner Umsetzung.

Horst Kornberger: Weltwunder Bienenstock – Von der Bienenkrise zur Ökologie des Mitgefühls, Futurum Verlag 2017