Paul Geheeb und die Odenwaldschule

Frank Steinwachs

Um ein ganzheitliches Bild zu vermitteln, geht der Autor auf die pädagogische Vita des Gründers Paul Geheeb ebenso ein wie auf seine Ideale und die spätere Praxis ab 1910. Doch bereits im Juni 1933 verabschiedete Geheeb seine Kollegen von dem Mythos, »… dass die Odenwaldschule sehr gut auch im Dritten Reich blühen könne«. – Und tatsächlich, die Schule wurde einen Monat später, am 20. Juli 1933, unter die Kontrolle des Reichsministerium des Inneren gestellt, Geheeb de facto entmachtet und zunehmend NS-Lehrer in der Schule eingesetzt. Der Gewissenskonflikt zwischen innerer oder äußerer Emigration, welche die Geheebs 1934 mit einzelnen Schülern gemeinsam antreten, wird durch die vielen zitierten Originaltexte in seiner Tragik spürbar. Eine Abrundung findet das Buch durch die Darstellung der von Geheeb im Schweizer Exil gegründeten Ècole d´Humanité zwischen 1934-1945 sowie des gleichen Zeitraums für die Odenwaldschule – im Ringen einzelner Kollegen um den Erhalt eines Minimums an Autonomie sowie abschließend der Wiederaufbauphase nach dem Krieg durch Geheeb und Andere.

Wer eine Auseinandersetzung mit Reformpädagogik im Nationalsozialismus erwartet, der wird enttäuscht. Nicht die Reformpädagogik ist Thema, sondern ein Reformpädagoge und sein sehr individuelles Denken, Fühlen und Handeln, das Werk eines Mannes, der das Privileg hatte, auch nach 1945 in Deutschland wirken zu können. Ebenso wichtig nämlich wie die Frage nach den Schulen zwischen 1933 und 1945 ist auch die nach den in der Emigration verschollenen pädagogischen Vordenkern. Sie waren als Rückkehrer im postfaschistischen Deutschland kaum willkommen und ebenso wenig wurde ihnen ermöglicht, an ihre Arbeit vor 1933 anzuknüpfen, ein tragischer, später Sieg der NS-Gleichschaltung nach 1945, den Shirley nicht thematisiert; schade für ein umfassendes Verständnis des Themas – und leider auch unserer heutigen Pädagogik.

Dennis Shirley: Reformpädagogik im Nationalsozialismus. Die Odenwaldschule 1910-1945. 272 S., EUR 28,–. Juventa, Weinheim und München 2010