Phoenix aus der Asche

Christof Wiechert

Ein begeisternder, reich bebilderter Text ist entstanden. Man muss sich immer wieder wundern: Es ist die erste vollständige Darstellung des Entstehens der neuen Erziehungskunst schlechthin. Was an Fakten verstreut verfügbar war, liegt nun zusammengefasst vor. Nicht nur das, es kommen auch Tatsachen ans Tageslicht, die bis dahin im Verborgenen ruhten. Zum Beispiel, dass von den Gästen beim Vorbereitungskurs erwartet wurde, dass sie an ihren Wohnorten für die neue Erziehungskunst tätig werden sollten und dass darunter tatsächlich schon praktizierende Lehrer waren; dass Walter Johannes Stein nach der Gründungsfeier von E.A. Karl Stockmeyer buchstäblich von der Straße geholt wurde, als er schon im Begriff war, nach Wien zurückzukehren. Oder die hochinteressanten Tabellen der Klassenstärken, oder wie Caroline von Heydebrand schildert, wie ihre achte Klasse eine Weihnachtsfeier selber gestaltete. Man liest auch nach so vielen Jahren noch pädagogisch Zukünftiges – insgesamt ein lebendiges Bild dieser erstaunlichen Zeit.

Zdražil ist nicht nur Chronist, sondern auch ein profunder Kenner der Steinerschen Menschenkunde. Das zeigt sich im bedeutenden Eingangskapitel, in dem er die zwei Quellen der Erziehungskunst aufzeigt. Zunächst Steiners eigene Erfahrungen in der Erziehung als vielgefragter und erfolgreicher Nachhilfelehrer für Kinder und Erwachsene. Dann Steiners geistige Forschung, die durch mehrere Phasen ging. Es brauchte nach dem Erscheinen der kleinen Schrift »Die Erziehung des Kindes vom Gesichtspunkte der Geisteswissenschaft« 1907 noch zwölf Jahre Inkubationszeit, bevor die Idee des dreigliedrigen Menschen geboren werden konnte. Es wird deutlich: Bei der Begründung war nichts fertige Form und noch alles im Werden.

Zdražil nimmt uns mit in den Vorbereitungskurs. Er zeichnet liebevoll die Biographien derjenigen nach, die schließlich die Schule »machten« und es kann sich eine gewaltige Bewunderung für deren Lebensleistung einstellen. Was hat ein Karl Stockmeyer in der Vorbereitung und Durchführung der Schulgründung nicht alles geleistet – als Geistesarbeiter, aber auch als handfester zielsicherer Organisator. Oder Emil Molt als süddeutscher Schaffer und Unternehmer und seine Gattin Berta, die eine weitaus größere Rolle an seiner Seite spielte, als bislang wahrgenommen. Daneben, wie von höherer Warte aus teilnehmend Herbert Hahn – und wie die drei zusammen mit Steiner die Idee der Waldorfschule zur Welt brachten.

Ein nächster Strang ist die sorgfältig rekonstruierte Betrachtung der Vorbereitung: der »Glücksfall«, dass gerade Kultusminister Bertold Heymann zum verständnisvollen Gesprächspartner wurde, wie Molt die Uhlandshöhe erwarb, wie Stockmeyer in die Welt geschickt wurde auf die Suche nach geeigneten Lehrern, wie er selber seine Beurlaubung in Karlsruhe einreichte, noch unsicher, ob er die Aufgabe erfüllen könnte. Es wurde mit hohem Druck und Tempo gearbeitet. Dann der eigentliche Gründungsakt und, bevor man sich versieht, ist die Schule eine Tatsache.

Der Hauptteil des Buches umfasst die Schilderung der ersten sechs Schuljahre unter Steiners Führung. Jedes Jahr beginnt mit einer Übersicht der äußeren Entwicklung, gefolgt von dem, was dem Jahr sein Gepräge gab. Im ersten Jahr der Zauber des Anfangs, die Einführung der Morgensprüche, die ersten Gehversuche in der neuen Pädagogik mit Caroline von Heydebrand und Leonie von Mirbach. Zugleich verkraftet das Kollegium das vollkommen unerwartete Ausscheiden von Friedrich Oehlschlegel, der mit Herbert Hahn zusammen den Religionsunterricht einrichten sollte. Volles Leben und Steiner im Hintergrund als der, der Hinweise gibt, besänftigt, auch mal tröstet und verlangt, man solle mit den Schülern immer im Kontakt sein. Das zweite Jahr zeigt schon das Erwachen der Gegnerschaft in Person Dietrich Eckarts, eines Vorboten der braunen Flut, die im Aufsteigen begriffen war. Demgegenüber die neuen Kollegen Maria Uhland und Robert Killian für die ersten Klassen, Max Wolffhügel und der reizende Einschub über dessen Pflegetochter Else Klink, für die Steiner eigens die Stundenpläne von Schule und Eurythmieschule aufeinander abstimmte. Dann im dritten Jahr die Grundsteinlegung für den Neubau nach turbulenten Konferenzen und der ersten Inspektion der Schule. Wie Steiner erst mit der Entrüstung der Kollegen über diese Inspektion mitgeht, um später feststellen zu müssen, dass sie in vielen kritischen Punkten recht hatte, ja sogar wohlwollend war. Das vierte Jahr ist als Krisenjahr bekannt: der Schrecken des Goetheanumbrandes, Geldmangel und Raumnot, aber auch ein Jahr, in dem es Eugen Kolisko zusammen mit Steiner gelingt, für die unterernährten Schüler ein Nahrungsergänzungsmittel zu entwickeln, das sich als sehr wirksam erwies; es existiert noch heute als Weleda Aufbaukalk I und II.

Im fünften Jahr wird man schließlich der pädagogischen Krise Herr. Erstaunlich auch, wie Steiner die Kollegen auf die erste Abiturprüfung vorbereitet, indem er den Lehrplan für die zwölfte Klasse aussetzt und sich den staatlichen Lehrplan geben lässt. Trotzdem waren die Prüfungen kein Erfolg, was Steiner veranlasste, den Lehrern vorzuwerfen, dass die Schüler nicht gelernt hätten, selbstständig zu arbeiten.

Ein tragisches Kapitel, das von Zdražil in voller Länge dargestellt wird, ist der Umgang mit dem außergewöhnlichen Schüler Alexis Vivenot. Er hatte ihn dem Lehrerkollegium mit Nachdruck ans Herz gelegt, denn er sah seine ungewöhnlichen Begabungen und auch wohl dessen Schicksal. Das Lehrerkollegium versagte, beurteilte ihn nur nach bürgerlichen Maßstäben, machte nicht nur den Schüler unglücklich, sondern desavouierte dadurch auch Steiner. Das sechste Schuljahr schildert am Tag des Schuljahresendes Steiners Tod. Die Beschreibung ist zurückhaltend und wirkt vor allem durch die Dokumente, Briefe und Notizen der Kollegen erschütternd.

Schließlich gibt es noch ein reizendes Kapitelchen über Steiner unter den Schülern und einen Ausblick auf die Zeit nach 1925 bis zur Schließung der Schule im Jahr 1938.

Die waltende Tragik dieser Jahre ist im Nachlesen und Nachempfinden kaum zu ertragen.

Was musste gelitten werden, was musste alles verbrennen, bevor der Phönix aus der Asche einer zerstörten Kultur aufsteigen konnte! Und dann waren sie wieder da, die Waldorflehrer, die jetzt mit Schülern und Eltern buchstäblich aus Schutt und Asche die Schule wieder aufbauten.

Wie immer bei solchen Büchern bewegt die Frage: Haben wir genug gelernt? Machen wir es jetzt besser? Werden wir Bestand haben?

Man darf dem Autor dankbar sein, dass er die Arbeit auf sich genommen hat, die Entstehungsgeschichte der ersten Waldorfschule darzustellen und so sorgfältig zu dokumentieren. Es ist ein kräftiges Geisterinnern, das jeder Waldorflehrer durchleben sollte.

Tomáš Zdražil: Freie Waldorfschule in Stuttgart 1919-1925. Rudolf Steiner – das Kollegium – die Pädagogik. 528 S. mit Abb., geb., EUR 32,–, edition waldorf, Stuttgart 2019