Prüfung ohne Ich

Frank de Vries

Der Autor tritt nicht für die generelle Abschaffung von Prüfungen ein. Aber im Spannungsfeld von »Abschlüssen und Aufschlüssen« möchte er die Bildungsdebatte zur Prüfungskultur neu beleben. Zunächst werden das juristische Gewand der Reifeprüfungen und die Geschichte des Abiturs in Deutschland in einem kulturgeschichtlichen Überblick dargestellt, wobei eine erstaunliche Parallelität zwischen dem chinesischen Prüfungswesen für die Beamtenlaufbahn im alten Kaiserreich und dem modernen Abitur zum Vorschein kommt. Grebe weitet dann den Blick und stellt die Frage, mit welchem Ziel und in welcher Form junge Menschen überhaupt geprüft werden sollten.

Auf der Suche nach einem inhaltlich gefüllten Reife-Begriff entwickelt Grebe an den Werken von Künstlern und Philosophen wie Albrecht Dürer, Filiippo Brunelleschi, Giovanni Pico della Mirandola, Johann Gottlieb Fichte und Novalis die Leitbilder einer freien selbstbestimmten Persönlichkeit und stellt sie als Wegbereiter einer neuen Ich-Pädagogik dar. Dieses Ideal findet Grebe in der Waldorfpädagogik wieder. Das bestehende Prüfungswesen erscheint vor diesem Hintergrund als »Prüfung ohne Ich« und steht im scharfen Gegensatz zum Bedürfnis des modernen Menschen nach erkennbarer Individualität. Wie müsste also eine Prüfung aussehen, die mit dem Potenzial des »Ich« rechnet? Die Schule der Zukunft soll nicht belehren, sondern dazu anstiften, das Leben zu befragen. Denn »die heutige Lernkultur krankt an der Antwortkultur. [...] Fragen, auf die man die Antwort schon weiß, sind keine richtigen Fragen«.

Eine Möglichkeit, dass der Lehrer sein Bewertungsmonopol aufgibt, findet Grebe in der Portfolio-Unterrichtmethode: Dem Prozess der Selbstprüfung und Selbstbewertung einen höheren Stellenwert zu geben, könne »als Beitrag angesehen werden, die Ich-Orientierung in den schulischen Oberklassen zu verstärken«. Doch auch der Lehrer wird aufgefordert, »das Lernen im Lehren wieder zu entdecken, [...] etwa die Fähigkeit, den eigenen Unterricht mit den Augen eines Schülers zu betrachten. [...] Eine Verwandlung des Prüfungswesens kann nur gelingen, wenn die Prüfer auch an ihrer Selbstverwandlung interessiert sind«.

Grebes Plädoyer ist ein aktueller Beitrag zur Neugestaltung des Überganges von der Schule in den Beruf oder in das Studium und kann allen Lehrern und Eltern sowie pädagogisch interessierten Lesern empfohlen werden.

Holger Grebe: So lass ich mich nicht prüfen! Plädoyer für eine Verwandlung des bewertenden Blicks, 130 S., kart., EUR 17,– edition waldorf, Kassel 2018