Resonanzfiguren des Selbst

Edwin Hübner

Der Physikdidaktiker Wilfried Sommer vertritt in seinem Forschungsgebiet eine phänomenologische Unterrichtsmethodik. Sein neues Buch versucht in Anknüpfung an die phänomenologische Anthropologie, Grundaspekte der Waldorfpädagogik neu zu erschließen. Er greift dabei ein zentrales Motiv phänomenologischen Denkens auf: den Doppelaspekt von Leiberleben und Körperwahrnehmung. Dabei lotet er die Beziehungen aus, die das verkörperte Selbst zu seiner Umgebung hat.

In einer Reihe von Essays geht er der Frage nach, wie das Kind aus dem unmittelbaren leiblichen Erfahren – beispielsweise eines physikalischen Experimentes – seine Beziehung zu der als gegenüberstehend erlebten körperlichen Welt bildet. Hier kommt der auf Hartmut Rosa zurückgehende Begriff der Resonanz zum Tragen. Immer wieder an konkrete Beobachtungen, an kleine pädagogische Miniaturen anknüpfend, fragt Sommer, wie im Unterricht »der Leib zum lernenden Resonanzkörper werden« kann.

Aus dieser Perspektive blickt Sommer auf Grundbegriffe der Waldorfpädagogik, beispielsweise den Begriff der »Ich-Organisation«, des Willens und des »Ich-Sinns«. Er untersucht, inwiefern die ideenrealistischen Ansätze Steiners ein weiteres Licht auf phänomenologische Fragestellungen werfen können. Sein Fazit: Zugänge der phänomenologischen Anthropologie und der ideenrealistische Ansatz Steiners beleuchten sich gegenseitig in erstaunlicher Weise.

An der Essaysammlung ist positiv hervorzuheben, dass es ihr gelingt, Grundelemente des Steinerschen Denkens in den wissenschaftlichen Diskurs einzubringen und Parallelen zu anderen Denkern und Phänomenologen aufzuzeigen. Die Texte sind stilistisch nicht leicht zugänglich. Sie wirken deshalb auf manche Leser abweisend. Wenn man sich davon nicht abschrecken lässt und willens ist, manche Seiten zwei- oder dreimal zu lesen, dann findet man sehr viele anregende und tiefschürfende Gedanken.

An Sommers Buch wird aber auch deutlich, dass wir gegenwärtig in der Erforschung der Grundlagen der Waldorfpädagogik noch auf dem Wege sind, die Denkformen auszubilden, die dem Phänomen »Mensch« nicht nur in seiner leiblichen, sondern auch in seiner seelischen und geistigen Dimension gerecht werden. Sommers Buch ist von diesem Gesichtspunkt aus gesehen ein Meilenstein.

Wilfried Sommer: Resonanzfiguren des verkörperten Selbst. Essays zu anthropologischen Perspektiven der Waldorfpädagogik, 120 S., brosch, EUR 16,95, Beltz Juventa, Weinheim/Basel 2021.