Ressource oder Individualität

Gerhardt Vögele

Einleitend stellt Landl die drei Jahrsiebte und die sich darauf beziehenden Erziehungsziele der Waldorfschulen dar und arbeitet die Unterscheidung von Wissen und Erkennen heraus; beides wird gemeinhin als »Lernen« bezeichnet, aber »Verantwortungsreife« kann nur durch Weltinteresse und Erkenntnis errungen werden.

Im Folgenden beschreibt er die Entwickelungsschritte in der Oberstufenzeit und stellt einen größeren biografischen Zusammenhang her, in dem auch die Schicksalsintentionen und das Freiheitserleben der Heranwachsenden ihren Platz bekommen.

Antonia Grasso-Beddig referiert für die ausgehende Mittelstufe Manfred von Mackensens Ansatz zur Gliederung des Unterrichts. Das Gedächtnis als Fundus erinnerbarer Inhalte: zunächst als Gleichnis des Geistigen, sodann als Grundlage für erste Schritte in der Urteilsbildung, das Schaffen von Verbindungen zwischen den Sinneseindrücken, darauf die Ausbildung des Gefühlsurteils, das ein echtes Mitfühlen des Erwachsenen als Anleitung und Führung braucht. Als Errungenschaft kann die Ausbildung eines Begriffs von Ursache und Wirkung gelten; die Mechanik ist »in den Körper eingebaut«. Die Überwindung des dadurch veranlagten Materialismus wird durch die Hinführung auf den Körper als Teil der Welt erreicht. Anschließend stellt Landl die Bedeutung der Willensentwicklung für die Oberstufe dar und Michael Zech verweist vor dem Hintergrund des Waldorf-Geschichtsunterrichts auf die verschiedenen Stufen und Qualitäten der Urteilsbildung. Tritt Charakterisieren an die Stelle des Definierens, so verstellt vermeintlich Universelles nicht den notwendigen Dialog, der zur selbstständigen Urteilsbildung führen kann.

Es schließt sich ein Interview von Peter Lutzker mit Landl und Zech an; Thema des Gesprächs: die sich selbst erziehende Lehrperson. Darin zeigt sich die Waldorfpädagogik als diametral zu »anderen Pädagogiken«; einzige Brücke ist der »gute Lehrer«. Die Pädagogik der Regelschulen betrachtet das Individuum als »Ressource«, die Waldorfpädagogik das Individuell-Werden als Erziehungsziel. Dafür bedarf es allerdings des besonderen Verhältnisses des Heranwachsenden zum (Oberstufen-)Lehrer: Der muss Respekt haben vor der Individualität, er muss sich wirklich für sie interessieren.

In einem zweiten Teil des Buches werden Aspekte zur Didaktik der Oberstufe entfaltet, im dritten Teil schließlich geben elf Autoren einzelne Beispiele aus den Unterrichten. Der Autor der Rezension kann nicht anders als begeistert sein von der Art der vorliegenden Zusammenstellung! Vor allem »junge« Lehrer im Anfang ihrer Tätigkeit können von dem gebotenen Überblick auf ihrem Weg »zum sich selbst erziehenden Erzieher« profitieren.

Richard Landl (Hrsg.): Aufbruch in die Welt – Waldorfpädagogische Grundlagen der Oberstufe mit Unterrichtsbeispielen, 378 S., kart., EUR 30,–, Verlag am Goetheanum, Dornach 2018