Rudolf Steiner zu Individuum und Rasse

Georg Wahrmund

Uwe Werner, Autor des Buches »Anthroposophen in der Zeit des Nationalsozialismus (1933-1945)«, setzt sich in einer soeben erschienenen Studie kenntnisreich und detailliert mit Rudolf Steiners Engagement gegen Rassismus und Nationalismus auseinander. Seine Untersuchung ist ein wesentlicher Beitrag zur Klärung des Begriffes der Anthroposophie, dessen Verständnis gegenwärtig von einer Reihe tendenziöser Interpretationen und Entstellungen erschwert wird.

Werner untersucht Steiners Auffassungen in verschiedenen Lebensphasen und arbeitet eine gleichbleibende Grundüberzeugung heraus: die Geschichte zielt auf die Emanzipation der geistigen Individualität von jeder Art der Fremdbestimmung. Freiheit und Befreiung sind Kernmotive in Steiners Denken. Er versteht Geschichte als Ermöglichungsgeschichte menschlicher Freiheit, die sich als Individualisierung vollzieht, als Befreiung des einzelnen Individuums aus Kollektiven. Die Anthroposophie wird von Steiner als Vehikel dieser Individualisierung aufgefasst. Aus dieser Kernüberzeugung ergibt sich ein erhellender Blick auf Steiners Verständnis möglicher somatischer Differenz: sie wird als historischer Untergrund der menschlichen Freiheitsgeschichte lesbar. Steiner ging es bei seinen Ausführungen über Rassen und Völker nie um die Zuschreibung feststehender Eigenschaften, um »Essentialisierung«, sondern gerade um Befreiung von solchen Eigenschaften. Die meisten Kritiker, die Steiner Nähe zum Rassismus unterstellen, blenden diesen entscheidenden Gesichtspunkt aus und gelangen daher zu Interpretationen, die Steiners Intentionen auf den Kopf stellen.

Werner geht in seiner Studie auch auf die Frage ein, wie Anthroposophen den Nationalsozialismus einschätzen und Nationalsozialisten die Anthroposophie. In diesem Teil seiner Arbeit bewahrheitet sich die Richtigkeit seines Interpretationsansatzes: die historische Nagelprobe zeigt die Unvereinbarkeit einer Ideologie des Rassenkollektivismus und der emanzipatorischen Form der anthroposophischen Spiritualität. Werner verschweigt nicht die wenigen Einzelnen, die dem Irrtum erlagen, das nationalsozialisitische Regime könne auf Dauer den renitenten Individualismus und Kosmopolitismus der Anthroposophen dulden, aber er zeigt auch, dass auf beiden Seiten das klare Bewusstsein eines unüberwindbaren Antagonismus vorhanden war. Immer wieder kommt Werner im Verlauf seiner Untersuchung auf Helmut Zander und seinen fragwürdigen Umgang mit historischen Wahrheiten zu sprechen. Wie schon die Untersuchung »Zanders Erzählungen« von Lorenzo Ravagli (Berliner Wissenschaftsverlag 2009) zeigen auch Werners Detailanalysen, dass Zander kein unvoreingenommener, objektiver Interpret der Anthroposophie ist, sondern seine eigene verdeckte Agenda verfolgt. Jedem, der an einem differenzierten Urteil auf diesem heiß umkämpften Gebiet interessiert ist, kann Werners Studie nur dringend empfohlen werden. 

Uwe Werner: Rudolf Steiner zu Individuum und Rasse. Sein Engagement gegen Rassismus und Nationalismus, 152 S., Verlag am Goetheanum, Dornach 2011.

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