Selma Lagerlöf blickt zurück

Frank Hörtreiter

Diesem chronikartigen und doch unterhaltsam-anekdotischen ersten Drittel ihrer Lebenserinnerungen folgt 1930 geschrieben ein gleichwertiger zweiter Teil »Aus meinen Kindertagen« aus der Ich-Perspektive: lebensprall und zugleich ein wenig melancholisch. Das letzte Drittel ist ein Unikum: Da nutzt eine alt gewordene Dichterin selbstbewusst ihre erzählerischen Mittel, um ein Tagebuch einer Zeit zu erdichten, die sechzig Jahre zurückliegt (1932). Stimmungsschwankungen, religiöse Zweifel und Überspanntheiten werden da angedeutet, ohne dass es peinlich wird. Sehr ergreifend – aber schwerlich der Perspektive einer Vierzehnjährigen entnommen – ist die Darstellung des verbotenen Besuches in einer Leichenhalle, sowie die Durchgrübelung eines schweren Schicksals, das die Erzählerin bei einer ins Wasser gegangenen jungen Frau vermutet. Es ist wohl kein Zufall, dass die nachfolgenden, fast spiritistischen Erlebnisse in einem Gottesdienst bisher in jeder deutschen Übersetzung fehlten. Für einen Erwachsenen ist das Buch ein wunderbares Lesefutter. Und manches eignet sich auch zum Vorlesen für Kinder der Unterstufe – so etwa die köstliche Dienstbotengeschichte »Die aus Stein gebauten Häuser«. Insgesamt: eine wunderbare Dichtung und zugleich eine Ernte der heimatlichen Herkunft dieser liebenswerten Frau.

Selma Lagerlöf: Die Erinnerungen, geb., 620 S., EUR 24,90, Verlag Urachhaus, Stuttgart 2016