Sprechende Natur

Renatus Derbidge

Was habe ich mich gefreut, die erweiterte Ausgabe von »Säugetiere und Mensch«, nach immer wieder verschobenem Erscheinungstermin endlich in Händen zu halten. Schon die Erstauflage von 1971 war sofort ein Klassiker der Goetheanistischen Naturwissenschaft.

Jetzt liegt Schads Werk über alle Säugetiergruppen, auch die »Frühformen« – die Kloaken- und Beuteltiere – als Ganzheit, von der Embryologie bis zum Sterbegeschehen vor. Lang vermisste Gruppen wie die Primaten oder die Fledertiere, aber auch die niederen Säuger wie die Insektenfresser werden nun behandelt. Verstärkt kommen, ergänzend und erweiternd, auch die wichtigen Aspekte der Physiologie, der Tier-Umwelt-Beziehung und der Entwicklung zur Geltung, sodass Schad dem Untertitel »Gestaltbiologie in Raum und Zeit« gerecht wird. Nicht nur der Mannigfaltigkeit der Formen und Prozesse der inneren (organischen) und äußeren Entwicklung wird genüge getan, sondern auch der Einheit der beiden.

Für Schad ist das Tierreich der ausgebreitete Mensch. Da er ein ausgezeichneter Tierbeobachter ist und durch Beschreibungen die Tiere lebendig macht, schafft er es, im Leser innere Bilder, Wesensbilder, ja Imaginationen der unterschiedlichen Gruppen – sprich des Menschenwesens – hervorzurufen. Der Natur abgelesen entsteht so eine Erfahrungsgewissheit, dass Dreigliederung als Prinzip in der Welt herrscht. So beginnt die Natur zu sprechen, ohne dass deterministische oder teleologische Prinzipien nötig wären, um das Tierreich (und den Menschen) zu verstehen. Das ist in der Tat ein Meilenstein des Goetheanismus.

Über 1.500 Farbbilder bereichern das Buch. Die Fotos wurden so sinnreich ausgewählt und eingebettet, dass sie selbst ein Skeptiker der Bilderflut nicht missen möchte. Schad hat dafür oft Bilder »schlechter« Qualität, sprich, alte oder unscharfe, schwarz-weiße oder persönliche Fotos verwendet, weil sie jeweils das Charakteristische besser darstellen, als einige moderne, farbstarke Profifotos.

Als Lehrer und Forscher vermisse ich ein brauchbares Sachregister. Zwar sind alle Tiere aufgelistet, aber mit entscheidenden Schlagwörtern wie Umkehrfärbung, Selbstdarstellung oder Gebiss fehlt, was es zum Arbeitsbuch bräuchte. Dieses Buch ist kein spezifisches Biologie-Buch, sondern ist von ganz grundlegendem Wert für Jedermann.

Wolfgang Schad: Säugetiere und Mensch. Ihre Gestaltbiologie in Raum und Zeit. Zwei Bände im Schuber mit 1.430 Abbildungen, durchgehend farbig, geb., 1.255 S., EUR 79,–, Verlag Freies Geistesleben, Stuttgart 2012