Stuttgarter Pioniere

Christof Wiechert

»Aller Anfang« beschreibt nicht nur ausführlich die Gründergestalten, sondern es stellt obendrein einen wunderbaren, zu Herzen gehenden Kulturführer gerade zu dieser Gegend Deutschlands dar. Und wenn die Lebensläufe der Beschriebenen es verlangen, gehen die Beschreibungen auch nach Altona, Herrenberg, Mannheim, nach Berlin, Südamerika, New York. Sie berücksichtigen die geographischen Lagen, die wirtschaftliche Situation, die Kultur und Religion. Und unwillkürlich erlebt man die Realität der Bedeutung der Orte, die sich die Seelen für die Inkarnation aussuchen, weil dort ihre Wirkungsstätten sein sollen. Ein großer Atem durchzieht dieses Buch.

Vor diesem Hintergrund entfalten sich die Biographien der Gründergestalten: Adolf Arenson, José del Monte, die Familie Unger, Marie Antonie Völker (»Toni«), E.A. Karl Stockmeyer, Alice Fels, Emil und Bertha Molt, Emil Leinhas und viele andere – allesamt starke Charaktere, die sich der Anthroposophie zur Verfügung stellten.

Hartwig Schiller befolgt das Prinzip des Webens. Bestimmte historische Abläufe werden geschildert und wie die Protagonisten darin agierten. So wird der Lebenslauf von Alice Fels, der bereits dargestellt wurde, bei einer zweiten Gelegenheit Anlass, ausführlich über die Mysteriendramen und die Entstehung der Eurythmie zu berichten. Dass kann anfänglich verwirrend wirken, aber man bemerkt bald, es hat System – das System geistig-geographischen Kulturschaffens durch Lebensläufe.

Die Stationen, die vorübergehen sind folgende: Die Theosophische Gesellschaft, der Münchner Kongress, der Modellbau zu Malsch und das Zweighaus Landhausstraße 70 in Stuttgart, die Wirrnisse in der Theosophischen und die Gründung der Anthroposophischen Gesellschaft, die Mysteriendramen, der Erste Weltkrieg, die Dreigliederungsbewegung und die Gründung der Waldorfschule. Und Stuttgart selbst mit seinem von Anfang an reichen Angebot verschiedener Zweige, die versuchten, zusammenzuwirken.

Hartwig Schiller scheut dabei keine größeren Ausflüge in die Geistesgeschichte. Das ganze Gedichtfragment der »Geheimnisse« Goethes, den wunderbaren Vortrag des alten Arenson am Goetheanum über alte und neue Generationen, aber auch, für den Rezensenten zum ersten Mal sichtbar, eine vollständige Liste der 19 teilnehmenden Unternehmen des Kommenden Tages und die komplette Produktpalette der Waldorf-Astoria Zigarettenfabrik; es ist immer und alles interessant!

Wir begegnen Emil und Bertha Molt aufs Neue bei der Begründung der Waldorfschule und bei den Nöten der Dreigliederungsbewegung. Aus dem ersten Lehrerkreis werden viele schöne biographische Skizzen gegeben. Ganz besonders soll noch hingewiesen werden auf die gründliche Darstellung der Person von Emil Leinhas, der bisher nicht die Würdigung erfahren hat, die ihm zukommt. Es gelingt Hartwig Schiller, seine Arbeit ins rechte Licht zu rücken, wodurch Leinhas in seiner eigentlichen Gestalt sichtbar wird.

Es ist und bleibt aber ein erschütterndes Erlebnis, durch dieses Buch zu erfahren, was für Persönlichkeiten, was für Talente, was für Kraft und Durchhaltewillen von diesen Menschen aufgebracht worden sind und was für Leid und Tragik durch die politischen Verirrungen über sie gekommen ist. Dass wir Nachgeborenen es wenigstens durch ein solches Buch nachempfinden können, kann die Lücken schließen, die durch diese Zeitschicksale in unser historisches Bewusstsein und Gewissen geschlagen worden sind.

Hier berühren wir das große Verdienst dieses Buches: Sich dem Geist-Erinnern mit solcher Gründlichkeit zu widmen, und in der Masse der Fakten die Orientierung nicht zu verlieren, dass dem Leser dadurch dieses Geist Erinnern aufgehen kann, das ist ein echtes Geschenk.

Hartwig Schiller: Aller Anfang. Gründergestalten der anthroposophischen Arbeit in Stuttgart, 478 S., Ln, EUR 39,–, Verlag Freies Geistesleben, Stuttgart 2020