Sachbuch

Wahrnehmungsschulung

Sonja Zausch

Ein Buch, das Stille, Nachdenklichkeit und Betroffenheit in mir ausbreitet. Warum? Worüber schreibt Pascale Karlin, wenn sie über sich selbst und die von ihr aufgezeigten Realitäten von Menschen, die mit Autismus leben, berichtet? Was lässt die tiefe Berührung in mir entstehen?

Es sind die die Beschreibungen der dünnen, perforierten Grenze zwischen uns, den Menschen: Wie weit und von wo berührt das Außen mein Innen? Wie und wo kann ich mein Innen dem Außen zeigen? Wann geht es mir gut, bin ich mir meiner Selbst sicher mit diesem beweglichen Ich-bin-Raum? Wann und wie kann bzw. muss ich mich abgrenzen und schützen oder mich eben auch wehren?

Karlin schreibt in ihrem ersten Buch intim und bewegend über die eigenen Barrieren, die in ihrer Selbsterfahrung und Selbstreflexion als Autistin ganz real vorhanden sind. Offen und präzise analysiert sie das eigene Verhalten und reflektiert mit profundem Wissen die unterschiedlichen Formen des Autismus. Dabei bezieht sie sich auf verschiedene Lebensbereiche wie Kommunikation, Gefühle, Beziehungen, Altern, Zeitempfinden, Erinnerung u.ä.

Sie betont immer wieder, dass mit dem Autismus respektvoll umgegangen werden möge und der Begriff nicht inflationär für diverse emotionale zwischenmenschliche Ausrutscher missbraucht werden sollte. Es gehe beim Autismus um ein ganzheitliches, innerlich komplexes Erleben des Menschen in Resonanz zu seiner Umwelt, auch wenn wir als Menschen ohne Autismus häufig bestimmte – vermeintlich eindeutige – äußerliche Verhaltensmuster erkennen und meinen, damit Verhalten »labeln« zu können. Hinter den äußerlichen Aktionen leben Bedürfnisse wie Sicherheit, Orientierung, geordnete Zeitabläufe, Fragen zum Verhalten der Mitmenschen – denn die Menschen sprechen manchmal inhaltlich anders als ein Mensch mit Autismus sie beim Sprechen wahrnimmt. Es wird eine Kluft erlebt, eine Entfremdung, zwischen dem Sein und dem Schein, zwischen dem gehörten Wort und dem spürenden Herzen, zwischen dem innerlich Wahrgenommenen und dem Hörbaren.

Deshalb breitet sich in mir beim Lesen Stille aus: Es entstehen Fragen an mich selbst mit meiner Fähigkeit des Wahrnehmens. Und dafür bin ich diesem ehrlichen Buch dankbar: Ich kann die Welt- und Ich-Wahrnehmung dieses Menschen mitvollziehen und gleichzeitig mein eigenes Welt- und Ich-Wahrnehmen befragen.

Vielleicht ist es der wesentlichste Beitrag des Buches: Gegenseitiges Verstehen kann beginnen – das ist nicht romantisch oder kitschig gemeint, sondern ganz im Sinne der UN-Behindertenrechtskonvention: gemeinsam teilhabend, teilgebend und teilnehmend an unseren Biografien.

»Ich kenne keine Abstraktion meiner Selbst. Ich kann nur so sein wie ich bin«, schreibt Pascale Karlin. – Nehmen wir uns das alle zu Herzen!

Pascale Karlin: Das fragile Gleichgewicht zwischen Sein und Nichtsein. Eine Innensicht des Autismus, 112 Seiten, brosch, EUR 12,90, info3 Verlag, Frankfurt 2020.

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