Warum Computerspieler nicht finden, was sie suchen

Paula Bleckmann

20 Millionen Deutsche spielen Computerspiele. Die Umsätze der Branche liegen in unserem Land bei etwa anderthalb Milliarden Euro jährlich. Daher ist es nicht erstaunlich, dass mögliche problematische Wirkungen dieses Verhaltens wie Übergewicht, schlechte Noten, Gewalt immer wieder in die Schlagzeilen geraten. Die Debatte dreht sich aber fast ausschließlich um problematische Außenwirkungen. Zu Unrecht, meint der Medienforscher Heinz Buddemeier. Im Menon-Verlag ist ein Buch von ihm erschienen, in dem er sich eingehend mit den Innenwirkungen der Medien auseinandersetzt, mit einem Schwerpunkt auf den problematischen Innenwirkungen von Computerspielen. Es ist ein philosophisches Buch, in dem es um große Menschheitsfragen geht: Wo komme ich her und wo will ich hin mit diesem meinem Leben? Wer sind die Menschen, die mir dabei zur Seite stehen? Ist der Sinn meines Lebens an das Greifbare, Messbare, Materielle, kurz: an meinen Körper gebunden? 

Verlockend simple Antworten gibt es auf diese schwierigen Fragen, so der Autor, wenn ich sie nicht auf mein eigenes Leben beziehe, sondern auf meinen Avatar. So heißt die »Spielfigur«, die ich durch eine virtuelle Landschaft steuere und mit der ich virtuelle Abenteuer erlebe, wie in dem verbreiteten Onlinerollenspiel »World of Warcraft«, das in dem Buch vielfach als Beispiel herangezogen wird. Wo komme ich her als Avatar? Nun, die Herstellerfirma hat die Software programmiert, und mein Aussehen, meine Rasse, meine Klasse werden durch Mausklicks festgelegt. Ganz einfach. Wo will ich hin? Ich will von Level 1 auf Level 80 aufsteigen und dabei eine Menge Ausrüstungsgegenstände anhäufen, ohne die diese »Weiterentwicklung« nicht möglich wäre. Auch klar. Wer steht mir dabei zur Seite? Die anderen Avatare aus meiner Gilde. Und ist der Sinn des Avatar-Lebens an einen Körper gebunden? Natürlich nicht, einen Körper im Sinne eines physischen Leibes hat der Avatar nicht und er braucht ihn auch nicht. Allerdings ist er andererseits komplett materiell determiniert, da durch das Programm vorgegeben. Man kann ihn löschen, dann hört er auf, zu existieren.

Dass damit aber die drei eingangs genannten Fragen zufriedenstellend beantwortet seien, davon kann keine Rede sein. Durch das Computerspiel oder allgemeiner durch die Mediennutzung finden sich keine Antworten, aber die Fragen werden für Stunden, Tage, Wochen und Monate verdrängt. Sie geraten gegenüber der lauten, schnellen Medienwelt in den Hintergrund. Buddemeier schreibt dazu:

»In der virtuellen Welt ist der Mensch für den Ruf des Schicksals taub. Irgendwann kann und will er ihn auch in der wirklichen Welt nicht mehr hören.«

Interessant, dass ehemalige Computerspielabhängige tatsächlich oft von einer Art »Taubheit« in der Wahrnehmung des Real Life berichten, wie es z.B. im Aussteigerbericht eines jungen Onlinerollenspielsüchtigen auf www.rollenspielsucht.de zu lesen ist:

»Gegen die Welt von WoW erscheint mir noch heute alles fahl, wie ausgebleicht.«

Der Ruf des Schicksals, darunter versteht Buddemeier die Suche nach Antworten auf die drei großen Menschheitsfragen. Er nennt sie die Frage nach dem Sinn und den Aufgaben der individuellen Existenz, die soziale Frage und die religiöse Frage. Die Parallelen zu den von Onlinerollenspielern am häufigsten genannten Spielmotiven (relationship, immersion, achievement) arbeitet Buddemeier überzeugend heraus. Er ist jedoch sehr entschieden in seiner Auffassung, im Virtuellen könnten die Menschen darauf nur Schein-Antworten finden. Deshalb setzt er sich genau, aber kritisch mit den euphorischen Äußerungen anderer Autoren auseinander. Diese sehen im Virtuellen gelebte weltweite Solidarität, das Erlernen sozialer Kompetenz, gar den nächsten Schritt in der Evolution der Menschheit. Er hält dagegen: »In der virtuellen Welt werden soziale Schwierigkeiten beseitigt, ohne dass es nötig wäre, soziale Fähigkeiten zu entwickeln.«

Die Entwicklung von Fähigkeiten findet im Real Life statt. Je kleiner das Kind, desto unverzichtbarer sind diese Primärerfahrungen. Darüber sind sich ja heute Pädagogen, Psychologen und Hirnforscher weitgehend einig. Aber Buddemeier meint mit der Forderung nach unmittelbarer Welt- und Menschenbegegnung etwas, was weit über die Unterstützung der sensomotorischen Integration hinausgeht. Es geht ihm um die Unterscheidung zwischen Wesen und Erscheinung, zwischen Mensch und Maschine, zwischen tot und lebendig. Mit Erscheinung meint er dabei dasjenige, was materiell vorhanden ist, unter dem Wesen versteht er etwas Immaterielles. Im Real Life fällt beides zusammen, und ein Kind, das auf die altmodische Weise mit anderen Menschen in Kontakt tritt, kann dabei den Sinn fürs Wesent-liche entwickeln. Wo aber dem Auge und Ohr eines Kleinkinds z.B. im Fernsehen der Erscheinung nach ein Mensch dargestellt wird, ist tatsächlich kein solcher Mensch da. Damit nimmt das Verwischen der Grenzen zwischen tot und lebendig einen Anfang. Als Konseqenz hieraus verkümmert der Sinn fürs Wesentliche, ein wirkliches Einlassen auf das Wesen eines Anderen kann nicht stattfinden, und es fehlt die Basis für die Entwicklung wirklicher sozialer Fähigkeiten.

Es gibt aber Millionen Menschen auf der Welt, die eben Antworten zu sehen glauben, wo Buddemeier Scheinlösungen sieht. Darauf gilt es, einzugehen. Als Alternative zur verbreiteten Medien-Verherrlichung setzt er dabei erfreulicherweise nicht auf Medien-Verteufelung. Er tappt beim Nachdenken über Computerspiele nicht in die Klischee-Falle vom dicken, gewalttätigen, jungen Mann. Das ist gut, den spätestens seit Erscheinen der PINTA-Sudie, die die deutsche Bundesdrogenbeauftragte Mechthild Dyckmanns kürzlich präsentierte, ist diese Vorstellung vom Bildschirmjunkie nicht mehr haltbar: Hier sind es gerade unter Jugendlichen nicht die Jungen, sondern die Mädchen, die häufiger von Internetabhängigkeit betroffen sind.

Der Computer oder allgemeiner die Medien werden von Buddemeier weder als Weltretter, noch als alleinige Sündenbocke, sondern eher als eine Art »Fieberthermometer« angesehen, an denen sich zugrundeliegende gesellschaftliche Probleme ablesen lassen. Wenn Menschen zu Medienskaven werden, statt daß die Medien den Menschen zur Verwirklichung ihrer eigentlichen Ziele dienen, dann sind daran nicht die Medien allein schuld. In diesem Punkt würde sich Buddemeier mit einem anderen kritischen Kopf, dem bekannten Computerwissenschaftler Joseph Weizenbaum, blendend verstanden haben. Der sagte:»Ich bin kein Computerkritiker. Ich bin Gesellschaftskritiker.« Denn genauso sieht es auch Buddemeier: »Die Medien sind in der Tat ein großes Problem. Sie konnten aber nur zu einem großen Problem werden, weil es ein noch viel größeres Problem gibt. Dieses Problem besteht in dem … Fehlen einer seelentragenden, sinnstiftenden Kultur. Die heute dominierende Kultur beruht immer noch weitgehend auf den Annahmen des naturwissenschaftlichen Materialismus de 19. Jahrhunderts, nur dass dieser Materialismus, vor allem durch die Hirnforschung, sehr verfeinert wurde. Auf dieser Grundlage lässt sich kein Problem unserer Zeit lösen.«

Wenn diese letzte Aussage stimmt, weist Buddemeier damit implizit auf ein ganz massives Problem von Widersprüchlichkeit auf der Meta-Ebene hin: Diejenigen, die in der Fachwelt die Phänomene der Internet- und Computerspielabhängigkeit untersuchen, gehen ja praktisch alle von den beschriebenen materialistischen Grundannahmen aus. Diese Forscher würden also nicht nur auf persönlicher Ebene ihren eigentlichen Lebenssinn dabei nicht finden, sondern sie würden auf gesellschaftlicher Ebene durch die Unterstützung eines materialistischen Menschenbildes gerade die Sucht fördern, die sie durch ihre Forschungen zu verhindern suchen. Die Fokussierung auf die »Außenwirkungen« des Medienkonsums führte damit in eine Sackgasse, so dass man nur hoffen kann, dass dieses philosophische Buch nicht nur, aber gerade auch unter Mediensucht-Forschern viele Leser finden möge.

Heinz Buddemeier: Zwischen Wirklichkeit und virtuellem Wunderland – Über die problematischen Innenwirkungen von Computerspielen, Menon-Verlag, Heidelberg, 2011