Was heißt Deutschsein?

Bruno Sandkühler

Zafer Șenocak ist der perfekt integrierte Türke. Er schreibt makellos Deutsch –  besser als mancher Deutsche – was sage ich da, er ist ja jetzt Deutscher. »Wie meinen Sie das?« wird er mich da wohl mit seinem Lausbubenlachen fragen, und schon sind wir beim Thema, um das es da auf 190 Seiten geht: Was heißt Deutschsein? Das wissen wir zwar am Ende immer noch nicht so genau, hatten aber Gelegenheit, uns mit vielen treffenden Beobachtungen und klugen Gedanken auseinanderzusetzen, die dem Niveau der andauernden Integrationsdebatte gut tun.

Șenocak brennt ein sprachliches Feuerwerk ab, mit überraschenden Themensprüngen und nicht ohne Altbekanntes. Die Sprachlust verführt ihn gelegentlich zu gewagten Bildern wie dem von der »vergifteten Suppe der Heimatsehnsucht«, die eingefroren und gelegentlich wieder aufgetaut wird.

Aus der Sprachlust kommt aber auch Șenocaks wichtigste Botschaft. Sie betrifft die Sprache. Die glücklichen Umstände, unter denen er selbst Deutsch lernte, lassen sich sicherlich nicht generell herstellen, doch könnten wir viel tun, um uns ihnen anzunähern. »Der Lernprozess ist nicht funktional, sondern emotional. Er erfordert das Eindringen in den deutschen Identitätsraum, das Sichhineindenken in eine verborgene Sprache, sagt Șenocak, und spricht später vom »Hörerlebnis«, dem »Einhören in fremde Sprachen«, dem »sinnlichen Erlebnis von Sprache, wenn der Klang die Worte verwandelt, so dass die fremdesten unter ihnen zu Vertrauten werden«. Würde die Kunst des Märchenerzählens, die in der Türkei wie bei uns eine so wunderbare Tradition hat, in Kitas und Schulen wieder Einzug halten, würden Kinderreime und Abzählverse als authentische Lerneinheiten anerkannt, so wäre schon viel gewonnen. Zutaten aus der Waldorfküche könnten diese Nahrung noch gedeihlicher machen – Rezitation vielleicht, Sprachübungen, Schauspiel und aktive Einbeziehung der Eltern in die Schulgemeinschaft.

Es ist bestimmt kein Zufall, dass Șenocak bei jemandem wie Frau Saal in Bayern Deutsch lesen gelernt hat, seine kritische Analyse des Deutschseins dagegen aus der Berliner Warte abgibt. Wer so deutsch geworden ist wie er, der muss zwangsläufig an vielem leiden, was da so im Argen liegt. Das kommt besonders in der Mitte zum Ausdruck, wo überraschend das Hohe Lied  Deutschlands anklingt. Allerdings würden »die Liebe und der Respekt, die diesem Land zweifelsohne entgegengebracht werden, von den Menschen dieses Landes viel zu wenig reflektiert. ›Zurücklieben‹ wäre hier das Schlüsselwort«. Für ihn ist die deutsche Sprache Lebensessenz; seine deutsche Lyrik gibt ihm eine »Möglichkeit, das verstopfte Herz zu öffnen«. Șenocak sieht sich aber nicht als deutschsprachigen Dichter wahrgenommen, sondern als einen Fremden in Deutschland, weil seine deutsche Umgebung zu stark mit seinem Türkischsein beschäftigt sei. Mit solchen Feststellungen trifft er den Kern der Deutschsein-Problematik. Misstrauen und Pauschalisierung des Fremden sieht Șenocak auch in der undifferenzierten Sammel-Etikettierung von Türken, Arabern und Iranern als Muslime, die mit dem Konstrukt einer »christlich-abendländischen« Kultur kontrastiert wird, trotz deren Entstehung aus der durchaus nicht christlich geprägten Aufklärung. Das Wohltuende an seiner Analyse liegt darin, dass er nicht als Türke oder Deutscher, sondern als individueller Beobachter spricht, dem man dann auch gelegentliche Behauptungen nachsieht wie zum Beispiel die, dass »vorbelastete FDP-Politiker … sich besonders auffällig bei der Amnestierung von in die NS-Zeit verstrickten Personen« engagiert hätten.

Ein solches Buch könnte dazu beitragen, dass man sich demnächst viel umfassender mit der Tatsache der weltweiten Migration auseinandersetzen kann.

Zafer Senocak: Deutschsein – eine Aufklärungsschrift, Pb., 190 S., EUR 16,– Edition Körber-Stiftung, Hamburg 2011

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