Welch ein Quartett!

Gabriele Hiller

Weit gefehlt: Da es Michael Bockemühl gelingt jedem dieser Künstler und seinen Werken auf jeweils andere, passende Weise nahe zu kommen, bedeutet jeder neue Band eine individuelle Erfrischung des Sehvorganges und der daraus resultierenden Bildwirkung.

Die Rezensentin ist damit bereits im Verzug, denn zwei weitere Bände zu Rothko, Newman, Reinhardt und Beuys sind im April 2021 dazu gekommen.

Einen Künstler wie Emil Nolde mit der differenzierten und kritisch-würdigenden Vorlesung vom 10.11. 1992 in dieser Reihe zu haben, über den spätestens seit der Berliner Ausstellung von 2019 das Urteil gefällt zu sein scheint, das eine unbefangene Herangehensweise ausschließt, mag zunächst erstaunen, überzeugt aber durch die Art des Vorgehens und erhellt Stärken und Schwachpunkte dieses Künstlers. Im Vorwort von David Hornemann v.Laer werden mit Thomas Bauer und Stefan Lüdemann Stimmen und Aspekte zum Umgang mit Ambiguitäten zitiert, die weit über das konkrete Thema Nolde hinaus aktuell und hilfreich erscheinen. Bockemühl findet außerordentlich präzise Formulierungen für die Sinnschichten und Reichweite künstlerischer Aussagen: »Die Frage nach dem Expressionismus ist zugleich auch die Frage nach der Realität des Seelischen und Geistigen im Menschen.« Er zeigt, wie Nolde in seinen Gemälden die gesamte Bandbreite innerseelischer Erfahrung gestaltet und wie Visionäres sich bei ihm oft an der Grenze eines Natureindruckes bildet. Diese Grenzerfahrung des Visionären ins Bild zu bringen, erlebt Bockemühl und mit ihm der Leser, an einer großen Zahl von Noldes Gemälden. Manchmal malerisch auch hineingetrieben in verzerrte Vereinseitigungen oder in allzu gefällige Verniedlichung (letzteres wohl vor allem aus prekären finanziellen Gründen).

Oft wünschte man sich beim Betrachten von Kunst einen Begleiter wie Bockemühl an der Seite, der zum Thema Ekstase und Furor allein durch einen Satz wieder: »Stellen Sie sich die Hand vor, die solch ein Bild malt« die Vergegenwärtigung des Malprozesses im Betrachten anregt.

Während man bei Bildern Noldes den Künstler als Schöpfer stets miterlebt und daher mitbetrachtet, erscheinen viele von Mondrians Werken kühl-distanziert, nahezu wie objektive Tastsachen.  Mondrians Weg zur Abstraktion und zum Universellen betrachtet Bockemühl unter drei Aspekten: Die Überwindung der Form zur Form / Das Spiel um die Mitte oder Ich und die Welt / In die freie Bewegung. Mondrians Streben von der »dinglichen Beschreibung« hin zu »reine(r) Gestaltung von Beziehungen« zu gelangen, wird an zahlreichen Bildbeispielen zur Erfahrung. Zu verfolgen, wie in diesen Bildern die natürliche Erscheinungsform auf ein Urprinzip zurückgeführt wird, ermöglicht dem Leser zugleich ein beglückendes ästhetisches Sehen, handlungsentlastet im Sinne von Gernot Boehme, da ich davon befreit bin als Betrachter doch noch »Dinge« im Bild als wiedererkennbar zu benennen. Diese Bilder erlangen den Zustand der Balance höchst labiler Gleichgewichtsbeziehungen und genau dies strukturiert den Betrachter, spricht seine Präsenz und Ich-Kraft an: Ich bin es, der hier sieht! Was in dieser Kürze als Behauptung wird, erreicht in Bockemühls Weg hohe Evidenz und Klarheit, auch für langjährige Mondriankenner.

Im Band über Paul Klee entfaltet der Kunstwissenschaftler, der auch ein Musikkenner war, das Doppelthema Malerei und Musik in wunderbarer Reichhaltigkeit und bis in sprachliche Feinheiten hinein als analoge Tätigkeiten. Ihm geling dadurch eine tiefgreifende und das eigene Sehen anregende Hineinführung ins Grenzland, »Niemandsland« zwischen beiden Künsten, wie sich Raum und Zeit zeigen, begegnen und durchdringen können, wohlgemerkt, immer an den Werken selbst: Es gelingt Klee mit seiner Malerei zu musizieren. Dies kann der Leser hörend nachvollziehen, indem das Buch 6 QR-Codes mit Weblink zu Hörbeispielen enthält, drei davon eigens für das Buch eingespielt, die Bockemühl in seiner Vorlesung 1992 verwendet hat.  

Der Band 11 über Salvador Dali wartet wiederum mit einer Besonderheit auf. Er enthält außer der Vorlesung einen Vortag Bockemühls von 1993 den im Museum für Moderne Kunst Frankfurt 1995 gehaltenen Vortrag zum Thema Ethik in der Wirtschaft: »Salvador Dali. Ethik aus Wahrnehmung«. Ein echtes Kontrastprogramm: In seinen öffentlichen Vorträgen bespielte Bockemühl oft die gesamte Klaviatur des Kunsthistorikers, so auch hier virtuos am großformatigen (400 mal 498 cm groß) Gemälde »Die Apotheose des Dollar« von 1965, von erkenntnistheoretischen Fragen (z.B. Sehen als Erfassen der Prozesse zwischen den Dingen) bis zum Aufblättern von Zitaten und Anspielungen. Er kann zeigen, dass in Dalis Bildern irrationale Anteile unserer Innenwelt als Außenwelt erscheinen, was extrem anziehend wirkt, fasziniert und zugleich abstößt.  Gleichzeitig ist dieser Vortrag inhaltlich und sprachlich viel mühsamer zu lesen als die Wittener Vorträge, die das eigene Sehen befähigen und beflügeln. Dalis Gemälde bewegen sich so weit jenseits der Sprache, dass bereits das Beschreiben versagt oder zur Qual wird. Sie im Detail erklärt zu bekommen, steigert dieses Gefühl noch. Meiner Erfahrung nach verfügte Dali über genaue Kenntnisse des Doppelstromes der Zeit und malte dies auch: Wie ein aus der Zukunft mir entgegenkommender Impuls ergriffen werden kann. Diese Entdeckung hat mir Dali bedeutsamer gemacht als sein virtuoser Umgang mit Anspielungen und malerischen Techniken.

Dennoch: Michael Bockemühl gelingt es tatsächlich, wie der programmatische Titel der Buchreihe verspricht, immer wieder erfrischend anders, Kunst-Lesen in Kunst-Sehen zu verwandeln.

Michael Bockemühl: Kunst Sehen. Nolde – Mondrian – Klee – Dali, Bde. 8-11, je EUR 16,80, Info3 Verlag, Frankfurt 2019/20