Wenn Sprache spricht

Ute Blankenburg

Die Autorin lebt ganz in den Feinheiten des Ausdrucks, sie hat viele Jahre Deutsch unterrichtet. Ihr Anspruch an gedankliche Genauigkeit und präzise Formulierungen ist hoch, auch in der Vielfalt der Gesichtspunkte und Beispiele. Gleich zu Beginn lesen wir von der einmaligen Genese der deutschen Sprache, die im Unterschied zu anderen europäischen Sprachen existierte, bevor sich ein Volk nach ihr benannte. Offensichtlich lebte in ihr die Kraft, gemeinschafts- und volksbildend zu wirken, sodass der Name »Deutsch« zuerst als Sprachname auftauchte, bevor er zum Namen für Land und Leute wurde. Seinen Zauber und sein Ausdrucksvermögen, so die Autorin, verdankt das Deutsche im Wesentlichen der langen Zeit, in der es in Umbildung begriffen war. Und bis heute erlaubt es dem Sprechenden, je nach seinem Sprachvermögen, vollgültige Sätze, welcher Gestalt auch immer zu bilden. Dazu kann er sich mannigfaltiger sprachlicher und klanglicher Feinheiten bedienen, von denen in diesem Buch auch reichlich Kostproben geboten werden. Was für eine Welt eröffnen z.B. allein die sogenannten Abtönungspartikel, die lange Zeit als verpönt galten, und doch gerade dem individuellen Ausdruck eines Menschen eine besondere Geltungsnuance verschaffen.  In dem Kapitel »Entscheidende Stationen des deutschen Sprachwerdens« hebt die Autorin hervor, welch ungeheure Anstrengungen und Mühen selbst die großen Sprachschöpfer und Dichter aufbringen mussten, um durch lebenslange Arbeit zauberhafte Wortschöpfungen wie z. B. »Zitterperle«, »flügeloffen«, »Wechseldauer« hervorzubringen, die besonders die deutsche Klassik (Goethe) auszeichnen. Aber auch die sehr dunklen Zeiten werden geschildert, in denen die deutsche Sprache zum »Gebell« und auf verhängnisvolle Weise in ihrer volksbildenden Kraft missbraucht wurde. Und heute? Da muss sich unsere Sprache und besonders unser Sprechen mancherlei tiefgreifenden Herausforderungen stellen. Sie werden deutlich benannt, ohne den in der Gegenwart oft anzutreffenden negativen Unterton. Und wie stellen sich die eigentlichen Sprachschöpfer, die Schriftsteller und Dichter in jüngerer Zeit zu jener Sprache, die Christian Morgenstern unser »Geistesantlitz« nannte? Mit einigen Beispielen setzt die Autorin eindrückliche Akzente: Ulla Hahn, die von den Wörtern, den Sätzen, dem Rhythmus erregt wird. Nelly Sachs, die noch für das Äußerste Worte findet, bis zur »aufgerissenen Wunde des Himmels«.Heimatlosigkeit, Fremdsein, Flucht, unterwegs im weitesten Sinne sind die großen Themen. Hilde Domin formulierte eindrücklich: »… ich verwaist und vertrieben, da stand ich auf und ging heim in das Wort« – heim in das deutsche Wort, obwohl sie mehrere Sprachen sprechen konnte. Heute, so Helga Lauten, haben wir die Chance, Autoren aus allen Ländern und Kulturen ohne Wenn und Aber als gleichberechtigte Sprachschöpfer in der Gemeinschaft der deutschsprachigen Dichter willkommen zu heißen. Mögen wir diese Chance ergreifen. Das Büchlein enthält eine Fülle von Anregungen. Es wendet sich nicht nur an Lehrer, sondern an alle, die Sprache interessiert. Es erweckt Staunen, wie allein durch genaueres Kennenlernen der Grammatik oder ein einziges, treffendes Wort sich die Vorstellungswelt erweitern oder wandeln kann. Und es weckt Freude am aufmerksamen Sprechen.

Helga Lauten: Die deutsche Sprache. Ihr Zauber und ihr Vermögen, 236 S., brosch., EUR 27,–, Verlag am Goetheanum, Dornach 2021