Wider den Aufmerksamkeitsentzug

Martin Cuno

»Überfällige Worte in komplett vermintem Gelände.« Man kann die Bedeutung des Büchleins nicht treffender auf den Punkt bringen als Christian Geyer es mit dieser Bemerkung tat. Der Sonderpädagoge Ahrbeck betritt ruhigen Schrittes dieses Gelände: »Die Diskussion um die Inklusion ist affektiv erheblich aufgeladen und in einer Weise emotionalisiert, die eine unvoreingenommene Urteilsbildung behindert.«

Diesen Kontext muss man bei Ahrbecks Ausführungen berücksichtigen. Er will einerseits eine »deutliche Sprache« sprechen, andererseits den »Raum für einen unaufgeregten, auch die eigenen Intentionen kritisch reflektierenden Diskurs« öffnen. Dass ihm das weitgehend gelingt, kann man schon daran ablesen, dass die Reaktion der von ihm angegriffenen »radikalen Inklusionsbefürworter« in betroffenem Schweigen besteht.

Ahrbeck hält kein Plädoyer »gegen« Integration oder Inklusion, sondern führt eine engagierte Auseinandersetzung mit den totalitären Zuspitzungen der Debatte, wie sie in der Forderung nach der ausschließlichen »Einen Schule für alle« auftreten. Sein Motiv ist die begründete Sorge um einen realen Verlust in der (sonder)pädagogischen Landschaft. Die von ihm kritisierte, simplifizierende »soziologische und sozialpolitische Sichtweise beinhaltet, dass die Person in ihrer Komplexität und inneren Widersprüchlichkeit immer mehr in den Hintergrund gerät. Eine zielgerichtete Aufmerksamkeit wird ihr entzogen, nicht zufälligerweise, sondern systematisch …« Das Wohltuende dieses Buches ist seine Ausgewogenheit: Wo man in der oberflächlich geführten Debatte nur von den »eindeutig erwiesenen« Vorteilen gemeinsamer Beschulung für alle hört, referiert Ahrbeck empirische Untersuchungen, deren unterschiedliche Ergebnisse nicht ins Pro-contra-Raster passen. Ebenso angenehm wie ungewöhnlich ist, dass in jedem Absatz seiner Ausführungen deutlich ist, über welche Schülerschaft – innerhalb des weiten Spektrums von Behinderungen – gerade gesprochen wird. Der eigentliche Schwerpunkt des Buches ist aber die Analyse der fachwissenschaftlichen Begrifflichkeit, unter deren versimpelnder Herrschaft gegenwärtig der im Titel angezeigte »Umgang mit Behinderung« zu verarmen droht: Die »Normalität des Andersseins«, die Dekategorisierung von Behinderung unter dem Aspekt begrüßenswerter »Heterogenität«, der »Ressourcen-Ansatz« der bejubelten Stärken versus vernachlässigter Schwächen: Dies und mehr geht eine unselige Allianz der Schlagworte ein, in deren Nebel der Mensch verschwindet.

Bernd Ahrbeck: Der Umgang mit Behinderung, brosch., 124 S., EUR 14,90, Verlag Kohlhammer, Stuttgart 2011