Würde braucht Verbundenheit

Frank Dvorschak

Nach einem Abriss zur historischen Entstehung des Begriffs Würde fragt der Autor, wie unsere Vorstellung von der Würde entstanden ist, weshalb wir eine brauchen, und wie sie im Gehirn konstitutionell verankert ist. Im Zentrum steht die Frage, wie bewusst der Mensch sich seiner eigenen Würde eigentlich selber ist. Sowohl für den Einzelnen als auch in der Auswirkung auf die Gesellschaft ist das der springende Punkt: Die Würde des anderen Menschen kann ich erst empfinden, wenn ich ein Empfinden und Bewusstsein der eigenen Würde erlangt habe. Aber woher kommt diese tiefe Empfindung? Hüther verknüpft vorhandenes Wissen über die Neuroplastizität des Gehirns mit Erkenntnissen über den Menschen. Die evolutionär notwendige und konstitutionell vorhandene Offenheit für Neues und die Wandlungsfähigkeit des Gehirns begegnet den vielen neuen Eindrücken, Erfahrungen, Gefühlen, Vorstellungen und Lernschritten im menschlichen Leben und setzt diese in immer wieder neuen Strukturen und neuronalen Vernetzungen um. Das beginnt schon in der vorgeburtlichen Ausreifung des Menschen im Mutterleib. Zu diesem Zeitpunkt sind im Gehirn vor allem zwei wichtige Grunderfahrungen verankert: engste Verbundenheit sowie eigene Weiterentwicklung.

Werden diese Grunderfahrungen, die der eigenen Würde als innerer Kompass dienen, nicht oder nicht genügend ausgebildet, reagiert der Mensch erst mit Unbehagen, dann mit Schmerz, zuletzt mit Vermeidung und Anpassung. Das ändert auch physisch die Gehirnstruktur. Hüther knöpft sich deshalb vor allem den verkrusteten Bildungsbereich mit seinen veralteten, die Gehirnstruktur in eine bestimmte Richtung entwickelnden Formen vor. Diese führen zu Anpassungsvorgängen, die letztendlich ein würdeloses Leben fördern. Von dem ist der Mensch irgendwann überzeugt, es sinnvoll würdelos leben zu können.

Die wichtige soziale Frage von Gerald Hüther, wie wir einander helfen können, uns unserer Würde bewusst zu werden, enthält die Ermutigung für diejenigen, die sich bisher aus ihrer Würde und inneren Unabhängigkeit heraus zurückgehalten und nicht eingegriffen haben, endlich aufzustehen und sich zu wehren. Hier wird das Buch gesellschaftspolitisch: Ein großer Weckruf für das Ergreifen, das Wachsen der eigenen Verantwortlichkeit, die in jedem Menschen angelegt ist. Offen geblieben ist für mich, ob nach Meinung Hüthers Handlungsimpulse tatsächlich vom physischen Gehirn ausgehen, oder seelisch-geistigen Ursprungs sind. Ein kurzes, gedankenvolles und tiefgründiges Werk.

Gerald Hüther: Würde. Was uns stark macht – als Einzelne und als Gesellschaft, geb., 192 S., EUR 20,– Albrecht Knaus Verlag, München 2018

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