»Sansibar – hinter der offenen See«

Christian Meyer-Radkau

Auf deren Speicher, dort, wo das Dach noch einigermaßen heil ist, hat er sich ein Versteck gebaut, einen Verhau aus Kisten und dahinter ein Lager aus Stroh und Säcken, mit einer alten Decke darüber. In diesem Verhau befindet sich ein Brett, darunter hat er seine wichtigsten Bücher versteckt. Hier hält er sich auf, sooft er von zu Hause wegkann. Ja, des Nachts kommt er manchmal hierher, denn er hat ausprobiert, dass man das Licht einer Taschenlampe von draußen nicht sehen kann – so gut hat er sich verbarrikadiert. Die meiste Zeit liegt der Junge auf seiner Decke und liest, zum Beispiel Huckleberry Finn, und durch die Lektüre angeregt, beginnt er, über sich nachzudenken: »Der Mississippi wäre das Richtige, man konnte einfach ein Kanu klauen und wegfahren, wenn es stimmte, was im Huckleberry Finn stand ... auf dem Mississippi wäre man weg, während man sich auf dem Speicher nur verstecken konnte ... man müsste weg sein, aber man musste irgendwo hinkommen ... Erst dann ist man weg, dachte der Junge, wenn man hinter der offenen See Land erreicht.«

Man bemerkt, wie über die Identifikation mit Huckleberry Finn etwas in dem Jungen entsteht, was ihn in seinen Gedanken und Empfindungen über die Wände seines Verstecks hinausführt. Nach und nach konturiert sich dieses Unscheinbare etwas: »Wenn wir Vaters Boot noch hätten, dachte der Junge, dann wäre ich so frei wie Huckleberry Finn … ich will ein Boot für die offene See haben … 

Erwachsene interessierten ihn nicht … ich werde anders sein als sie, es muss doch möglich sein, anders zu werden. Man muss sich etwas Neues ausdenken, aber dafür müsste man erst einmal weg von ihnen.« Aus dieser widersprüchlichen Situation konturiert sich langsam eine Vorstellung: »Er zog eine seiner Landkarten hervor und las den Namen Sansibar und dachte, wozu bin ich auf der Welt, wenn ich nicht Sansibar zu sehen bekomme, Sansibar in der Ferne, Sansibar hinter der offenen See …«

Es wird also eine Geste des Sich-Absetzens, des Zurückziehens, des sich Versteckens deutlich, vor dem, mit dem man bisher verbunden war. Dann wird aber über die Bücher eine neue Beziehung zur Welt aufgebaut, die aus dem Versteck hinausführt, weit ausgreifend und schließlich sich an dem Namen Sansibar festmacht, der allerdings inhaltlich noch nicht genauer bestimmt werden kann. Fasst man die Situation menschenkundlich genauer, so kann man sagen: Der Junge erfährt sich bewusst als Einzelwesen, das von anderen geschieden ist, sich abgrenzt, einkapselt, einsam wird, ja Schutz sucht. Gleichzeitig bildet sich ein Innenraum von Empfindungen, die einer eigenen Beurteilung zugänglich werden.

Es wird hier also eine Selbst- und Sinnsuche geschildert, ein Aufbruch zu neuen Ufern, der etwas mit dem ganz Individuellen, mit dem langsam wachsenden Ich zu tun hat, das nun in der Welt seine Schicksalsabsichten und Lebensmotive zu realisieren versucht.

Persönliche Beziehungen zählen

Für diesen Brückenschlag zwischen Innen- und Außenwelt, zwischen Ideal und Wirklichkeit, zwischen Subjektivem und Objektivem sind die Jugendlichen stärker denn je auf persönliche Beziehungen angewiesen, namentlich die Beziehung zum Lehrer. Und sie sind sensibel genug, zu bemerken, wer sich als Person und Inhalt ausspricht, ob das menschlich echt und geistig gedeckt ist; ob der Lehrer nur an Stoffvermittlung oder an ihrer Persönlichkeit in den biographischen Erwartungen und Intentionen interessiert ist, an ihren individuellen Möglichkeiten und Schwierigkeiten. 

Und so stellt sich für die Jugendlichen die Frage, wird mich der Lehrer mit Fürsorge und Förderung in die Welt begleiten, so wie es der Schauspieler Jens Harzer (der Träger des Iffland-Ringes, nach Bruno Ganz) beschreibt: »Es gibt zwei Quellen, die entscheidend dafür waren, dass ich Schauspieler geworden bin. Der eine Quell, der warme, lebensrettende, war und ist eine Deutschlehrerin an dem Gymnasium in Wiesbaden, wo ich zur Schule ging. Die hat mich geliebt. Sie hat in mir mit 14 etwas gesehen und mich mit ihrer Liebe in die Welt geschickt. Der andere Quell ist eher ein dunkler und hat mit meiner Familiengeschichte zu tun, ohne jetzt ins Detail gehen zu wollen. So bin ich mit 15 auf den Weg gegangen, in etwas Unbekanntes hinein, in die Flucht, die das Spielen auch bedeutet, in eine Gegenwelt, die man sich aufbaut und erstreitet. Das sind die helle und die dunkle Quelle, die ich ständig, bei jedem Stück, bei jeder Arbeit anzapfe.«

Aus diesen Gesichtspunkten leitet sich auch die didaktische Richtschnur als »Lehrplan« ab, der sich eben nicht auf den für jede Klassenstufe schon vorgegebenen Inhalt, auf das schon immer wieder reproduzierte »Programm« bezieht.

Einen wesentlichen Akzent sollte die adäquate methodische Komponente bilden. Es käme im ersten Schritt darauf an, dass die Darstellung des Lehrers bildhaft und anschaulich den notwendigen Freiraum für die Gedanken- und Urteilsbildung schafft. Denn Sinnerfüllung kann sich erst dann einstellen, wenn der Schüler sich auch im Unterrichtsprozess als sinn-schaffend erleben kann, sein eigenes Ich-Wesen aktiv beteiligt ist. So wird der entsprechende Inhalt in die Suchbewegungen integriert im Hinblick auf ein Ur-, Sinn- und Vorbild. Nachdem in der Nacht eine Verwandlung des entsprechenden Stoffes stattgefunden hat, kann der Lehrer wie mit einer Sonde die Fragen der Schüler 

abtasten und aufgreifen und sie zu einem abwägenden Gespräch bündeln, aus denen sich wachstumsfähige Lebensperspektiven und Erkenntnisse entwickeln, die dann in einem dritten Schritt in eine begrifflich-schriftliche Form gebracht werden können.

So wird die Metapher »Sansibar« zu einem Schlüssel für die Träume und Ideale des jungen Menschen, für das Neue und Zukünftige, und der Unterricht soll dazu dienen, dass dieses Eingang finden kann in die Lebenswirklichkeit. Wie dieser Brückenschlag in einer Biographie sich verwirklichen kann, soll anhand einer Persönlichkeit angedeutet werden.

Ein Lichtstrahl in der Welt

Ein junger Mensch aus adeliger Familie steigt in Schweden eine Sprosse nach der anderen auf der Karriereleiter hinauf; er wird Staatssekretär, stellvertretender Außenminister. Aber die äußeren Erfolge stehen in keiner Korrespondenz zu seinem inneren Leben. Schon als Einser-Abiturient und Muster-Student leidet er unter seinen eigenen Ansprüchen und Selbstzweifeln, unter seiner Selbstbezogenheit und menschlichen Isolation. Seine Tagebucheintragungen geben darüber beredtes Zeugnis: »Lass nie den Erfolg seine Leere verbergen, die Leistung ihre Wertlosigkeit, das Arbeitsleben seine Öde. So behalte den Sporn, um weiter zu kommen, den Schmerz in der Seele, der uns über uns selbst hinaustreibt. Wohin? Das weiß ich nicht.« Diese Befindlichkeit mündet schließlich in die Erkenntnis: »Nach meinen Bedingungen, unter diesem Zeichen leben, heißt, die Erkenntnis der Lebenslinie erkaufen um den Preis der Einsamkeit.« 

Als die UNO einen neuen Generalsekretär sucht, wird auch sein Name genannt, der den meisten Delegierten unbekannt ist. Gleichwohl wird er gewählt und als er in New York eintrifft, begrüßt ihn sein Vorgänger mit den Worten: »Sie übernehmen den schwierigsten Job der Welt.« Am gleichen Tag schreibt Dag Hammarskjöld in sein Tagebuch: »Ich antworte Ja! Nun glaube ich, dass das Dasein einen Sinn hat und mein Leben ein Ziel besitzt.« Und fügt nach den ersten Wochen seiner Amtszeit hinzu: »Ich bin glücklich.« So sucht er den Frieden in der Welt und in sich selbst, in der Verbindung zwischen Außen- und Innenwelt, zwischen »vita activa« und »vita contemplativa«.

Wenn man heute den Sitz der UNO betritt, dann findet man dort einen Raum, den er noch selbst eingerichtet hat. Dieser Raum soll für alle Mitarbeiter zugänglich sein, es soll ein Raum der inneren Stille und der Meditation sein. In der Mitte des Raumes befindet sich ein großer Block aus Eisenerz, der so gelegt ist, dass auf seine schimmernde Ober­-fläche den ganzen Tag über durch ein Fenster ein Lichtstrahl fällt.

Zum Autor: Dr. Christian Meyer-Radkau ist Klassen- und Oberstufenlehrer in Hannover sowie Seminardozent in Berlin.

Literatur: A. Andersch: Sansibar oder der letzte Grund, Zürich 1970 | D. Hammarskjöld: Zeichen am Weg, München, Zürich 1965