Schlafdefizit – was tun? Schule im gesunden Rhythmus

Gisela King

Ein paar Jahre später, wenn die Kinder in die Pubertät kommen, sieht man sie an freien Tagen nur äußerst selten schon vor der Mittagszeit in wachem Zustand. Auf jegliche Versuche einer vorzeitigen Kontaktaufnahme reagieren die Jugendlichen in der Regel äußerst ungnädig. Auch die strengste Aufforderung, wenigstens unter der Woche einfach früher ins Bett zu gehen, damit man dem Unterricht am nächsten Tag ausgeschlafen und wach folgen kann, fruchtet nichts. Die Nutzung von Tablet, Computer und Smartphone kurz vor dem Schlafengehen wird als Schlaf-Verhinderer verdächtigt. Das ist sicherlich nicht ganz falsch, aber: Ist das die ganze Wahrheit?

Ortswechsel: In Tansania lebt das Volk der Hadza in Gruppen von 20 bis 30 Menschen noch heute als Jäger und Sammler, und zwar immer noch ohne künstliches Licht, Fernsehen, Computer oder Smartphone. Forscher haben beobachtet, dass auch bei den Hadza ältere Mitglieder der Gruppe generell früher schlafen gehen und auch früher aufwachen als jüngere Gruppenmitglieder. Die Jugendlichen sind also die »Nachteulen« am Lagerfeuer, während die Erwachsenen schon schlafen. Die beschriebenen Verschiebungen des Schlafrhythmus bei Jugendlichen werden also offenbar nicht durch äußere Einflüsse hervorgerufen – sie sind typisch menschlich. Wenn Jugendliche abends nicht ins Bett finden, sind sie einfach noch nicht müde. Und dafür können sie nichts, das ist in diesem Alter völlig normal. Auch wenn man den Körper durch kleine Tricks dazu bringen kann, sich den gewünschten Schlafgewohnheiten etwas anzunähern, klappt das nur innerhalb sehr enger Grenzen.

In den letzten Jahren haben sich immer mehr Zusammenhänge zwischen Schlaf und Gesundheit gezeigt. Nachts erneuern sich unsere Körperzellen, geschädigtes Gewebe wird regeneriert, Muskeln wachsen, Eiweiß und neues Blut werden gebildet.

Kinder wachsen nachts – bei manchen bemerkbar durch das Auftreten von abendlichen Muskelschmerzen. Auch das Immunsystem ist nachts hochaktiv. Das geht sogar so weit, dass Impfungen nur dann optimal wirken, wenn wir vor der Impfung und in der darauffolgenden Nacht gut schlafen. Wird der Schlaf gestört, bildet unser Immunsystem deutlich weniger Antikörper. Unser Gehirn wird während der Tiefschlafphasen durchgespült, schädliche Stoffwechsellabfälle, zum Beispiel bestimmte Eiweiße, werden abtransportiert. Diese schädlichen Eiweiße stehen im Verdacht, an der Entstehung von Erkrankungen wie der Alzheimer-Demenz beteiligt zu sein. Der regelmäßige nächtliche »Waschgang« hat also eine immense Auswirkung auf die Gesundheit im späteren Lebensalter.

Wenn Eulen Lerchen werden müssen

Die Auswirkungen von Schlafmangel sind mannigfaltig. So leidet unsere Fähigkeit, logisch zu denken und nachvollziehbare Entscheidungen zu treffen, schon nach einer durchwachten Nacht ganz erheblich. Die Auswirkungen ähneln dem Zustand mit einem Blutalkoholspiegel von ungefähr 1 Promille, ohne dass man selbst diese Beeinträchtigungen mitbekommt. Unausgeschlafene Menschen sind außerdem eher gereizt und ungehalten, sie tun sich schwer damit, auf andere Menschen angemessen zu reagieren. Auch die Fähigkeit, die Mimik eines anderen Menschen korrekt zu interpretieren, lässt stark nach. Das kann zum Beispiel dazu führen, dass man neutrale Gesichtsausdrücke als Angriff interpretiert und dementsprechend reagiert.

Vielleicht erklärt das auch das Verhalten mancher unausgeschlafener Jugendlicher in der Pubertät den Eltern und Lehrern gegenüber …

Rudolf Steiner forderte dazu auf, neue Informationen eines Unterrichtes erst einmal mit durch die Nacht zu nehmen, bevor man am nächsten Morgen zu Schlussfolgerungen und weiteren Überlegungen übergeht. Neurobiologen bestätigen das: Fakten, die tagsüber im Kurzzeit-Gedächtnis gelandet sind, werden während der Nacht ins Langzeitgedächtnis verlagert und dort zum Teil auch neu verknüpft. Für diesen »Umzug« von Faktenwissen müssen sich die Nervenzellen synchronisieren, bestimmte Verbindungen zwischen ihnen werden gestärkt, wenig genutzte dagegen abgebaut. Diese Prozesse laufen während der Tiefschlafphasen ab. Ohne ungestörten Schlaf mit ausreichenden Tiefschlafphasen gibt es kein wirkliches Lernen. Gelernt wird also nicht tagsüber, sondern nachts.

Pubertierende Schüler sind hier deutlich im Nachteil: Da sie jeden Morgen zu früh geweckt werden, fehlen ihnen wertvolle Tiefschlafphasen. Das wirkt sich auf ihre Leistungsfähigkeit aus. So haben Untersuchungen in Baden-Württemberg ergeben, dass beim Abitur statistisch eine halbe Note Unterschied zwischen Eulen und Lerchen liegt. Das ist ungefähr so, als ob die Form der Nase in die Abschlussnote einfließen würde.

Die Verschiebungen des Schlafrhythmus im Jugendalter haben auch deutliche Auswirkungen auf das Unterrichtsgeschehen. Obwohl sich Kinder etwa ab dem Alter von zwölf Jahren in fast atemberaubendem Tempo vom frühen Chronotyp (Lerche) zu Nachtmenschen (Eulen) entwickeln, läuten die Schulglocken unverändert früh – auch in den meisten Waldorfschulen. Unsere Klassenlehrer beobachten auch in den unteren Klassen immer wieder Schüler, die nicht ausgeschlafen sind und ständig gähnen. In der Oberstufe dagegen findet man als Lehrer zu Beginn des Hauptunterrichts manchmal ganze Klassen vor, die erstaunlich friedlich und ruhig sind – und das mitten in der Pubertät. Nachteulen wollen am frühen Morgen über gar nichts sprechen, weder zu Hause noch in der Schule. Richtig wach sind diese Schüler in der Regel nicht, und damit meist auch noch nicht aufnahmebereit für irgendwelche noch so spannenden Unterrichtsinhalte.

Ist die Müdigkeit groß genug, kann man erleben, dass einzelne Schüler der 12. Klasse mitten in einer lebhaften Gruppenarbeit in der Klasse tief schlafend mit dem Kopf auf dem Tisch liegen. Früher habe ich sie geweckt – inzwischen lasse ich sie schlafen. Ein Schüler einer 11. Klasse hatte das Schlafen im Sitzen fast perfektioniert – man musste schon zweimal hinschauen, um zu sehen, ob die Augen geschlossen waren.

Die Schlafforschung zeigt immer deutlicher: Verpasster Schlaf lässt sich nicht nachholen. Bei einem 15-jährigen Schüler kann sich das Schlafdefizit innerhalb einer Woche auf 11 bis 13 Stunden summieren. Was wird das für Auswirkungen für seine zukünftige Gesundheit haben?

Solche Überlegungen haben an unserer Schule dazu geführt, dass wir zum Schuljahr 2018/19 den morgendlichen Unterrichtsbeginn von 7.45 Uhr auf 8.30 Uhr verschoben haben. Eine umfassende Evaluation steht noch aus; es gibt aber Einzelberichte von Klassenlehrern der jüngeren Klasse, dass die Kinder wacher und ausgeglichener sind. Aus eigenen Erfahrungen kann ich sagen, dass die Oberstufen­schüler deutlich wacher und aufnahmefähiger sind als früher. In einer 12. Klasse wurde aus organisatorischen Gründen der Hauptunterricht auf Wunsch der Klasse an zwei Tagen auf die alte, das heißt, frühere Anfangszeit vorverlegt. Nicht nur für mich als Lehrkraft, sondern auch für die Schüler war eine erhebliche Minderung der Unterrichtsqualität spürbar – sie wollten gerne, konnten aber (noch) nicht wirklich aufmerksam agieren.

Darüber hinaus gibt es sicherlich noch weitere Aspekte, die wir in Zukunft bedenken müssen. So seufzte eine Schülerin im mündlichen Abitur bei der ersten Prüfung um 8.00 Uhr morgens aus tiefstem Herzen: »Für mich als Mega-Eule ist das hier eigentlich viel zu früh!«

Zur Autorin: Dr. Gisela King ist promovierte Tierärztin, seit 2005 Oberstufenlehrerin für Biologie und Geografie an der FWS Karlsruhe. Gründungsmitglied der Delegation Schulrhythmus, die seit Mai 2015 existiert. www.schulrhythmus.de (Auf dieser Website kann man sich über den Prozess bis zur Entscheidung zur Umstellung des Unterrichtsbeginns an der Schule informieren.)

Literatur: M. Walker: Das große Buch vom Schlaf, München 2018 | T. Roenneberg: Wie wir ticken. Die Bedeutung der Chronobiologie für unser Leben, Köln 2012 | P. Spork: Wake up! Aufbruch in eine ausgeschlafene Gesellschaft, München 2016

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