Liebe Frau Mai,
vielen Dank für Ihren Beitrag zum Thema »Schreibenlernen«. Ich finde es erfreulich, dass mein Bericht eine Diskussion zu diesem Thema ausgelöst hat. Die Intention, aus der heraus mein Bericht entstand, war ja keineswegs die, dass es nun alle genauso machen sollten wie ich; sondern er sollte eine Anregung sein, sich mit den Fragen, die mit dem Schreibenlernen zusammenhängen ‒ Welche Schrift? Welcher Zeitpunkt? ‒ bewusst auseinanderzusetzen. Und für eine solche Auseinandersetzung kann es ja nur hilfreich sein, wenn man verschiedene Standpunkte kennenlernt.
Nun ein paar Gedanken zu ihren Ausführungen:
Der etwas apodiktischen Überschrift (die vielleicht auch gar nicht von Ihnen stammt) hätte ich ein Fragezeichen gewünscht. Denn so eindeutig, wie Sie es darstellen, erscheinen mir Rudolf Steiners Darlegungen zu diesem Thema keineswegs. Sie bringen ein Beispiel dafür, wie Rudolf Steiner in GA 294 im 1. Vortrag aus einem Bild (in diesem Fall dem des Fisches) einen F herausholt, einen »großen deutschen Schreibschriftbuchstaben«, wie Sie schreiben, und zitieren R. Steiner, der in eben diesem Vortrag schreibt, die Druckbuchstaben seien aus den »Schreibbuchstaben« herauszuholen. Das Beispiel, das Sie bringen, ist allerdings recht selektiv. Zwar finden sich in den Vorträgen, in denen R. Steiner über die Einführung der Buchstaben spricht, mehrere Beispiele, in denen verschiedene schreibschriftähnliche Buchstabenformen aus dem jeweiligen Bild abgeleitet werden. Aber es finden sich mindestens ebenso viele Beispiele, in denen aus dem Bild große Druckschriftbuchstaben entstehen: das M und das D im 5. Vortrag von GA 294, Das L, F und W im 9. Vortrag von GA 303, das M, W und F im 9. Vortrag in GA 307 und das M, F und A im 2. Vortrag in GA 311 im 2. Vortrag. Wie diese Beispiele mit der genannten Aussage, es seien zunächst »Schreibbuchstaben« zu schreiben, in Einklang zu bringen sind, hat mir bisher keiner der Kolleginnen/Kollegen, die die Schreibschrift als Erstschrift befürworten, plausibel erklären können. Wäre es vielleicht denkbar, dass die schreibschriftähnlichen Buchstaben als Übergangsform zu den großen Druckbuchstaben gedacht sind? Dafür würde das F-Beispiel in GA 309 im 3. Vortrag sprechen, wo zuerst der Fisch, dann ein abstrahierter Fisch, als drittes eine schreibschriftähnliches F und zuletzt ein kursiv geschriebener großer Druckbuchstabe zu sehen sind. Dafür, dass große Druckbuchstaben am Beginn des Schreibenlernens stehen können, würde vielleicht auch der Hinweis im 2. Lehrplanvortrag (GA 295) sprechen, dass aus den beim Formenzeichnen gezeichnete Formen das zu entwickeln sei, »was wir für den Schreibunterricht brauchen«; die Formen, die sich dort als Beispiele finden, sehen m. E. jedenfalls eher wie Teilformen von Druckbuchstaben aus. Und könnte es sein, dass mit dem von Steiner verwendeten Begriff »Schreibbuchstaben« gar nicht unbedingt Schreibschriftbuchstaben, sondern generell vom Kind eher malend geschriebene Buchstaben zu verstehen sind, wohingegen die später zu erlernende »Druckschrift« die Druckschrift mit großen und kleinen Buchstaben, die den gedruckten Schriften ähnelt, gemeint ist? Entsprechend heißt es im 5. Vortrag GA 294: »Dann aber haben die Menschen nicht so kompliziert schreiben wollen, sie haben es sich einfacher machen wollen. Daher ist aus diesem Zeichen »D« [es wird ein großes Druckschrift-D gezeichnet], indem Sie jetzt übergehen zur kleinen Schrift, dieses Zeichen, das kleine d, geworden.« Zu welchem Zeitpunkt dieser Übergang von den großen zu den kleinen Druckbuchstaben erfolgen soll, darüber sagt er an dieser Stelle nichts; darauf werde ich noch zu sprechen kommen.
Vielleicht wollte ja R. Steiner auch, indem er manchmal schreibschrift-, manchmal druckschriftähnliche Buchstaben aus den Bildern hervorgehen ließ, dem Lehrer anheimstellen, mit welcher Schrift er beginnt. So heißt es in GA 305 im 5. Vortrag: »Jede Lehrkraft [muss] so, wie es ihr entspricht, den Unterricht erteilen. […] Wie das Leben in den verschiedensten Formen erscheinen kann, so kann auch ein Unterricht, eine Erziehung, die auf das Leben gebaut ist, in den verschiedensten Formen erscheinen.« Und in GA 311 im 2. Vortrag sagt er: »Allerdings, wenn man so vorgehen will [= bildhafte Einführung der Buchstaben, das Lesen aus dem Schreiben entwickeln], kann man nicht bis ins kleinste gehende Anweisungen bekommen, sondern nur eine Direktive, eine Richtung. Daher können Sie gerade bei dieser Unterrichtsmethode, wie sie aus der Anthroposophie folgt, mit nichts anderem rechnen als mit der absoluten Freiheit, aber auch mit der freien, schaffenden Phantasie des Lehrenden und Erziehenden.«
Wenn man nun als Klassenlehrer vor der Frage steht, mit in welcher Abfolge und in welchem Zeitraum man die einzelnen Schriften einführen möchte, wird man natürlich eine Entscheidung fällen, die einem selbst und vor allem der eigenen Klasse gemäß und die menschenkundlich begründet ist. Da erscheint es mir allerdings nicht sinnvoll, den 13. Vortrag aus GA 294 heranzuziehen (und sich wie Sie mit einem gewissen Bedauern zu fragen, warum man an den Waldorfschulen von den hier beschriebenen Vorgaben abgewichen ist). In diesem Vortrag geht es ja nicht primär um die Frage, was pädagogisch sinnvoll ist, sondern darum, welche Kompromisse damals einzugehen waren, um den staatlichen Lehrplanvorgaben zu genügen und um den Inspektor, mit dessen Besuch am Ende des Schuljahres unter Umständen zu rechnen war, zufriedenzustellen. Da in unseren Klasse jedoch kein Inspektor am Ende der ersten Schuljahre aufkreuzt, sind wir in der glücklichen Lage, das Schreiben- und Lesenlernen vorrangig aus pädagogischen Erwägungen heraus zu gestalten. Was bedeutet das konkret? Dazu äußert Steiner sich an verschiedenen Stellen eindeutig: Je später, je besser! So heißt es in GA 311 im 2. Vortrag: »Da kommen dann die Leute und sagen: Ja, aber die Kinder lernen dann spät erst Lesen und Schreiben. Das sagt man ja nur, weil man heute nicht weiß wie schädlich es ist, wenn die Kinder früher lesen und schreiben lernen. […] Lesen und Schreiben, so wie wir es heute haben, ist eigentlich erst etwas für den Menschen im späteren Lebensjahre, so um 11, 12. Lebensjahre. Und je mehr man damit begnadigt ist, kein Lesen und Schreiben vorher zu können, desto besser ist es für die späteren Lebensjahre. Derjenige, der noch nicht ordentlich schreiben konnte mit dem 14., 15. Lebensjahre ‒ ich kann da aus eigener Erfahrung sprechen, weil ich es nicht konnte mit 14, 15 Jahren ‒, der verlegt sich nicht so viel für die spätere spirituelle Entwicklung als derjenige, der früh, mit sieben, acht Jahren schon fertig lesen und schreiben konnte. Das sind Dinge, die gerade der Lehrer beobachten muß.« (Angemerkt sei, dass dieser in Torquay gehaltene Vortragszyklus für mich besonders maßgeblich ist, da es der letzte war, den Rudolf Steiner gehalten hat und in ihn ja die mehrjährigen Erfahrungen der Unterrichtspraxis der Stuttgarter Schule eingeflossen sind.) Natürlich können wir das Schreiben und Lesen nicht erst mit 11, 12 Jahren beibringen. Das würde den Erwartungen der Eltern und der Kinder ‒ von denen ja einige schon lesen können, wenn sie in die Schule kommen ‒ nicht gerecht werden. Aber hetzen lassen müssen wir uns auch nicht! S. Till Eulenspiegel! In GA 301 im 9. Vortrag heißt es dazu: »Es ist eine ungeheure Wohltat, wenn wir so gefühlsmäßig das Schreiben entwickeln und dann leise nur den Intellekt anklingen lassen, indem wir das Geschriebene wiedererkennen lassen im Lesen. […] Wir führen so das Kind am besten gegen das neunte Lebensjahr heran.«
Ich hoffe, ich konnte deutlich machen, dass eine Einführung der Schreibschrift als Erstschrift sich keineswegs zwangsläufig aus den Ausführungen von R. Steiner ableiten lässt und dass der Beginn mit den großen Druckbuchstaben zumindest auch eine Option ist. Für mich war es nie eine Frage, bei meinen vier Klassen damit zu beginnen ‒ die Harmonie und Klarheit der auf der Romana Capitalis basierenden großen Druckbuchstaben empfand ich am besten geeignet für den Einstieg. In den Schreibepochen (verkürzt dargestellt; eine ausführliche Darstellung findet sich in L. Helming-Jacoby, Der goldene Schlüssel. Anregungen für Klassenlehrerinnen und Klassenlehrer, Flensburger Hefte Verlag) bekamen die Kinder zunächst ein dem Charakter des jeweiligen Lautes entsprechendes Bild, am zweiten Tag dann schrieben sie (wie Rudolf Steiner das beschreibt in GA 301 im 10. Vortrag, der den Titel trägt »Synthese und Analyse im Menschenwesen und in der Erziehung« und von dem ich manchmal den Eindruck habe, dass er bei den Klassenlehrern nicht so bekannt ist bzw. nicht unbedingt beherzigt wird) kleine Texte, in denen das zu dem Bild gehörende Wort vorkam. So konnten die Kinder in den Schreibepochen des ersten Schuljahres das ganze Alphabet bildhaft kennenlernen. Ich kenne natürlich die Aussage von R. Steiner im 5. Vortrag von GA 294, man könne das Herausholen des Schreibens aus dem Zeichnerischen nur exemplarisch, »im Prinzip« durchführen und müsse dann weitergehen. Aber ist diese Aussage nicht dem Druck der staatlichen Lehrplanvorgaben geschuldet? In 2. Vortrag von GA 311 heißt es jedenfalls: »Und so finden Sie in der Tat für alle Konsonanten, für alle Mitlaute, wenn Sie erfinderisch sind, die Bilder, können sie aus dem malenden Zeichnen, zeichnendem Malen herausholen.« (Hervorhebung L. He-Jac)
In der zweiten Klasse kamen dann die Kleinen Druckbuchstaben dazu, mit der neuen, nicht geringen Anforderung, beim Schreiben Ober- und Unterlängen zu berücksichtigen. Die Kinder schrieben den größten Teil des zweiten Schuljahres eher malend mit Wachsmalstiften, um dann gegen Ende des Schuljahres zum kleinformatigeren ‒ und feinmotorisch anspruchsvolleren ‒ Schreiben mit Buntstiften überzugehen. Diese den gedruckten Schriften entsprechende Schrift ausgiebig schreiben zu lassen schien mir wichtig, da das Schreiben ja die Grundlage des Lesens bilden soll, wie R. Steiner in den pädagogischen Vorträgen immer wieder betont. Etwa in der Mitte der dritten Klasse führte ich dann die Schreibschrift ein. Meine Erfahrungen, diesen Zeitpunkt zu wählen, decken sich ganz und gar mit Rolf Rein, der in seinem Aufsatz »Eine Schrift die mitwächst« (»Erziehungskunst« 11/1995) schreibt: Das Kind verfüge »erst gegen Ende des ersten Drittels im zweiten Lebensjahrsiebt nach weiteren Epochen des Übens im dynamischen Zeichnen sowie dem Unterricht in Eurythmie und Handarbeit über die Auffassungskraft, Fingergeschicklichkeit und Bewegungssicherheit, die zum optimalen Nachvollziehen komplexer Bewegungsabläufe, die zwischen Polaritäten schwingen, erforderlich sind. Dies bedeutet, dass erst um das zweite Tertial der dritten Klasse das Erlernen der Laufschrift sinnvoll ist und notwendig wird.« Die Kinder meiner Klassen haben das Erlernen der Schreibschrift mit Freude aufgegriffen, es fiel ihnen gleichsam wie eine reife Frucht in den Schoß; gerade auch die motorisch schwächeren Kinder hatten in den zweieinhalb Jahren genügend an Sicherheit gewonnen, um die komplexeren Bewegungsabläufe der Schreibschrift bewältigen zu können ‒ keine geringe Anforderung, da ja nun nicht einzelne Buchstaben, sondern ganze Wörter in ihrer Gestalt zu erfassen und zu schreiben waren. Den »Schreibweg« mit den Kindern wie beschrieben zu gehen, war für mich insofern logisch, als er nach meiner Auffassung und meinen Erfahrungen einem wachsenden Schwierigkeitsgrad entsprach. Im Übrigen spiegelt sich darin ja auch die historische Schriftentwicklung wider, die von der Romana Capitalis zur karolingischen Minuskel und zu den Kursiv- und Kurrentschriften führte.
Die gelegentlich von Brüning/Clauss geäußerte Sorge, auf die Sie auch hinweisen, dass die Kinder die Schreibschrift nicht lange beibehalten, wenn sie nicht als erste gelernt worden ist, deckt sich nicht mit meinen Erfahrungen in der Mittelstufe. Sie haben natürlich recht, wenn Sie schreiben, dass »beständiges Üben« zum sicheren Beherrschen der Schreibschrift notwendig seit; ein solches Üben ist ja in meinen Klassen in den vorhergehenden Schuljahren auch ausgiebig erfolgt, in vorbereitender Weise, beim Formenzeichnen, beim Schreiben der Druckschrift. Sicherlich tauchten in der Mittelstufe in den Handschriften auch Druckschriftelemente auf, aber die blieben im Zuge der Individualisierung der Handschrift durchaus im Rahmen. Ich habe auch von nicht wenigen Schülern und Schülerinnen meiner ersten Klasse Briefe bekommen, die sie mir in der Oberstufe geschrieben hatten und die in einer gut geformten individuellen Handschrift verfasst waren.
Ich kann mir auch nicht gut vorstellen, wenn mit der Schreibschrift begonnen wird, wo dann die fürs Lesenlernen so grundlegend wichtige Druckschrift ihren Platz hat. Wird sie als Zweitschrift eingeführt, und dann sollen die Kinder wieder zur Schreibschrift zurückkehren? Oder sollen gar beide Schriften gleichzeitig gelernt werden (was nach Ihrer Darstellung in den damaligen Stuttgarter Klassen gemacht wurde, aber eben aus Anpassung an die staatlichen Vorgaben)? Das kann ich mir absolut nicht vorstellen ‒ es wäre m.E. eine Überforderung der Kinder und würde zu einem ziemlichen Durcheinander führen.
Ich hoffe, dass durch die kurzgefasste Darstellung des »Schreibweges« meiner Klassen meine Beweggründe, diesen Weg so zu gehen, etwas deutlicher geworden sind.
Mit den besten Grüßen
Ludger Helming-Jacoby