Pädagogische Provinz

Peter Guttenhöfer

Eine Schule ist gerade ein besonders ungeeigneter Ort, um mit der Welt in Verbindung zu kommen! Früher, als man noch mit allen Sinnen, mit Händen und Füßen in die Welt hineinwuchs, war das Leben der Kinder viel schwerer als heute. An allen Arbeiten der Großen wurde man von klein auf beteiligt: Man musste helfen, man musste sehr früh schon mitarbeiten im Ringen um das tägliche Brot, bei den Tieren im Stall, auf dem Feld, in der Küche und draußen bei Wind und Wetter. Das Kind stieß mehr oder weniger heftig mit der physischen Welt zusammen. »Erde« war hart für die Menschen.

Heute feilen wir an einer Vervollkommnung unseres Zivilisationsbetriebs, der jeden Zusammenprall zwischen Mensch und physischer Tatsächlichkeit zu vermeiden oder wenigstens so weich zu machen trachtet, so dass es gar nicht mehr zu einer richtigen »Inkarnation« der Seele in die Notwendigkeiten des irdischen Daseins und damit auch nicht in den eigenen physischen Körper hinein kommt. Das führt zu den unermesslichen Schäden des Erdenplaneten und der menschlichen Konstitution, von denen heute jeder unentwegt spricht. Hier hat »Schule« ihre Pflicht versäumt. Selbst heute, wo die Schäden auch für den selbstverliebtesten Illusionisten sichtbar geworden sind, bildet sie noch immer einseitig die kognitive Intelligenz aus wie im 19. Jahrhundert: Lesen, Schreiben, Rechnen – die heiligen Kühe aller Elementarschulen der Welt. Die meisten anderen Fähigkeitsanlagen bleiben unausgebildet; und somit kann der Wille, sinnvoll in der Welt zu handeln – gemäß dem, was Mensch und Erde erfordern – sich nicht entfalten.

Eine »vollständige Umgebung« tut Not

In Goethes Darstellung der »Pädagogischen Provinz« (Wilhelm Meisters Wanderjahre, 2. Buch, 1. Kapitel) kommt der Begriff der vollständigen Umgebung zur Sprache. Das ist eine starke, in die Zukunft führende Idee! Was braucht der jugendliche Mensch, um seine Persönlichkeitsanlagen vollständig zu entfalten? Einen Ort, der in sich erzieherische Qualitäten trägt. Das heutige Kind will nämlich nicht mehr von Lehrern der alten Art in der isolierten Schulstube erzogen werden, sondern von Menschen, die in selbstbestimmter Tätigkeit ihren Lebensort gestalten.

Dazu gehört in erster Linie die freie Gestaltung der Gemeinschaft, in der der Einzelne leben will. Setzte sich diese Gemeinschaft aus solchen Menschen, die ihren Lebensort selbst gestalten können, zusammen, dann fänden wir in ihr idealerweise den Handwerker, den Intellektuellen, den Lehrer, den Landwirt, den Arzt und den Künstler. Und sie alle zusammen könnten auch die geeigneten Lehrer für die Kinder sein! Lehrer der neuen Art. Lehrer, die das tun, worüber sie sprechen, Lehrer, die mit den Kindern gemeinsam arbeiten, die mit den Kindern gemeinsam lesen, schreiben und rechnen, aber auch säen und ernten, tanzen, schmieden, backen, schnitzen, kochen und musizieren. Menschen, die üben, Geschichten zu erzählen, mit Kindern Sterne und Pflanzen zu betrachten, den Zahlenraum zu erobern. Menschen, die sich selbst erziehen, um des erzieherischen Umgangs mit Kindern würdig zu werden.

Landwirt und Lehrer

Der geeignetste Ort, eine möglichst vollständige erzieherische Umgebung zu schaffen, wäre der landwirtschaftliche Hof. Hier leben die vier Reiche der Natur – der Mensch, das Tier, die Pflanze und der Boden – in geordneter Wechselwirkung zusammen. Alle sind so aufeinander bezogen, dass jeder jedem gibt und jeder von jedem nimmt; und wenn der Landwirt nach dem biologisch-dynamischen Prinzip arbeitet, strebt er danach, dem Boden mehr zu geben, als er von ihm nimmt. Die moralische Atmosphäre, die sich aus diesem Element der Selbsterziehung des Erwachsenen bildet, ist der Grund, auf dem die Erziehung des Kindes wachsen kann – die in Wahrheit auch nichts anderes ist als seine Selbsterziehung. Gewiss wären die meisten derzeitigen biologisch-dynamischen Höfe völlig überfordert, wollten sie sich auch noch eine Erziehungsaufgabe aufbürden; sie ringen ja ohnehin um ihre Existenz und um die Verwirklichung der biologisch-dynamischen Ideen.

Wir können also das Gesagte nur realistisch betrachten, wenn wir uns sowohl von der »Schule« als auch vom »Hof« in verschiedener Hinsicht neue Begriffe bilden. Es scheint, als gebe es seit einiger Zeit immer mehr junge Menschen, die diesen doppelten Wunsch für ihre Lebensarbeit im Herzen tragen: Sie möchten gern Lehrer werden, aber auch etwas an der Erde tun, oder sie möchten Landwirt werden, aber ihren Bauernhof zu einer Kulturwerkstatt machen und pädagogische oder sozialtherapeutische Aktivitäten einbeziehen. Oftmals hindern diese Menschen an den notwendigen Entschlüssen nur die alten Bilder von »Lernen« und »Spielen« oder von produktiver »Arbeit«, von denen sie wegen der verschleppten Kulturentwicklung noch immer geprägt sind, ohne das zu durchschauen. Wenn wir bereit sind, in Bescheidenheit zu beginnen – ohne gleich das ganze traditionelle Bildungssystem umwerfen zu wollen –, können wir Prototypen von kleinem Format gründen: den Hof nach dem Prinzip des solidarischen oder gemeinschaftsgetragenen Landbaus (CSA) bewirtschaften und eine Lerngruppe von Kindern verschiedener Altersstufen auf dem Hof beheimaten wie einst in einer »Schule«, so dass der Hof und die dort lebende und arbeitende Gemeinschaft die erzieherische Umgebung darstellen. Die Idee der erzieherischen Umgebung lässt sich auch an anderen Orten ansatzweise verwirklichen – selbst in der Stadt!

Angesichts des Ruins der Landwirtschaft und der Zerstörung der Natur an vielen Stellen des Planeten ist heute kaum etwas dringender, als die jungen Menschen in sinnlicher Nähe zu den Naturwesen aufwachsen, spielen und lernen zu lassen. Das Bild, mit dem Goethe seine Imagination einer Pädagogischen Provinz eröffnet, zeigt uns die Zöglinge, die bei der Ernte tätig sind und bei der Arbeit singen. Dazu wird gesagt: »Allerdings, bei uns ist der Gesang die erste Stufe der Bildung, alles andere schließt sich daran und wird dadurch vermittelt.« Ist das nicht wie ein Urbild für das hier Angestrebte? Die »Hauptfächer« für die Kinder in der erzieherischen Umgebung seien Musik und Gartenbau, das Kind möge leben dürfen – um es mit Hilfe Goethescher Begriffe zu sagen – im Schwingen zwischen Konzentration in der körperlichen Arbeit und Expansion in der seelischen Hingabe. Auf dem Demeterhof Pente bei Bramsche/Osnabrück wird zum Beispiel der Versuch unternommen, eine solche erzieherische Umgebung zu schaffen.

Zum Autor: Dr. Peter Guttenhöfer war Oberstufenlehrer an der Freien Waldorfschule Kassel für Deutsch, Geschichte, Kunstgeschichte; Mitbegründer des Lehrerseminars für Waldorfpädagogik Kassel und Lehrbeauftragter an der Universität Kassel; weltweit tätig in der Lehrerbildung und Schulberatung.