Schickt sie auf den Bauernhof – je früher desto besser!

Markus von Schwanenflügel

Die Situation in der Schule eskalierte. Die Feuerwehr rückte an. Pedro war, mit Ziel Hausmeisterei, mal wieder vom Unterricht dispensiert worden und offensichtlich in der richtigen Stimmung am Feuermelder vorbeigekommen … Letztlich war es dann Pedro selbst, der sich für das Abenteuer Estland entschied: Er spürte wohl »irgendwie«, dass er auf dem Weg in eine Sackgasse war.

Drei typische Bilder sind mir von seinem Aufenthalt auf unserem Hof in Erinnerung: Pedros Fahrrad, durchs dünne Eis eingebrochen, abends, halb versunken im See; von Pedro keine Spur. Er lag bereits im Bett. – Pedro quält sich mit einer schwer bepackten Karre über einen Acker, während es schneit. Das Holz für seine Bude musste unbedingt jetzt zum Bauplatz transportiert werden.

Pedro liegt im Heu mit Nooli im Arm. Noch während dessen Geburt hatte er es übernommen, sich um das Kalb zu kümmern.

Pedro hat bei uns kein Praktikum im herkömmlichen Sinne gemacht. Er hat fast sechs Monate in unserem kleinen Mehrgenerationenprojekt mitgelebt. Er hat geholfen, wo es sinnvoll war. Er hat etwa zwei Stunden pro Tag Unterricht gehabt und sich ansonsten ohne Probleme selbst beschäftigt. Heimweh war kein Thema.

Als ich Pedro vor einem Jahr kurz vor seinen Abschlussprüfungen wieder traf, meinte er, dass es ihm seit Naatsaku in der Schule gut gehe. Er sei viel ruhiger geworden, er habe sich ja auch in Estland ordentlich austoben können.

»Aber ich hör’ doch zu!«

Pedro kam mir wieder in den Sinn, als ich vor ein paar Tagen die Epochenhefte durchblätterte, die in meiner letzten Geometrie-Epoche an der Windrather Talschule entstanden sind. Diese Schule ist seit ihrer Gründung vor fast 20 Jahren eine inklusive Waldorfschule, an der in den Epochen grundsätzlich alle Kinder gemeinsam von zwei Lehrern unterrichtet werden. Mir fielen die vielen Gespräche wieder ein, die ich mit meinen Kollegen über eine bestimmte Gruppe von Schülern geführt hatte. Ich denke, es gibt diese Schüler in fast jeder 9. Klasse. Sie fallen dadurch auf, dass sie

• als letzte ihr (meist unvollständiges) Zeichengerät ausgepackt haben,

• als letzte verstummen, wenn es in der Klasse leise wird,

• eine große Professionalität darin entwickelt haben, sich selbst und anderen vorzumachen, dass sie aufpassen, in Wirklichkeit aber fast immer mit anderem beschäftigt sind,

• sehr selten, wenn eine Aufgabe gestellt ist, ohne nochmalige Erklärung mit der Arbeit beginnen können,

• mit minimalem Aufwand – wenn überhaupt – Hausaufgaben machen.

Zusammengefasst: Sie verhalten sich, als wenn sie nicht lernen wollten. Was natürlich nicht stimmt. Sie wollen lernen, sie sind aber in dem oben skizzierten Verhaltensmuster so gefangen, dass sie ohne Druck nicht lernen – und das fast unabhängig vom Fach und von den vom Lehrer praktizierten Methoden. Wir fragten uns, ob wir die Entwicklung dieser Schüler nicht vorhersehen und früher etwas für sie hätten tun können. Wir stellten nämlich fest, dass es eben diese Kinder waren, die in der Unterstufe ein aktives, zielgerichtetes Lernen gar nicht wirklich kennen gelernt hatten. Sie hatten nie selbst erlebt, dass es anstrengend ist, zu üben – aber auch nicht, dass es Spaß machen kann.

Wenn ich während der Epoche zum Beispiel Clarissa wieder einmal vorsichtig darauf hingewiesen hatte, dass sie gerade nicht richtig bei der Sache wäre, und sie empört sagte »Ich hör doch zu!«, so stimmte das aus ihrer Perspektive. Sie konnte ja sogar – ärgerlicher Weise – meinen letzten Satz wiederholen. Und als ich dann auch noch versuchte, ihr zu vermitteln, dass es einen Unterschied gibt zwischen hören und zuhören oder gar verstehen, hatte ich endgültig den Schwarzen Peter, denn dass sie nichts verstanden hatte, was sie bereitwillig zugab, konnte ja nur an meiner miesen Erklärung liegen.

Aus dem Lernprozess ausgestiegen – was nun?

Etwa bis zum 12. Lebensjahr fallen diese Kinder in einem erlebnisorientierten und künstlerischen Unterricht kaum auf. Sie lernen zwar etwas, aber mehr so nebenbei. Sie haben schon in frühen Jahren Schwierigkeiten, wenn es darum geht, »ins Üben« zu kommen, etwas zu wiederholen. Sie können zum Beispiel nicht aufmerksam bei einem Märchen zuhören, das sie schon kennen. Während ihre Klassenkameraden darin aufgehen, immer länger werdende Flechtmuster zu malen, finden sie das schon nach der dritten gleichen »Schleife« langweilig. Aber: Sie schwimmen mit, getragen von der insgesamt positiven Lernatmosphäre, und profitieren doch so viel vom Unterricht, dass der Lehrer noch kein schlechtes Gewissen bekommt.

Mit dem Einsetzen der Pubertät aber zeigen diese Schülerinnen und Schüler deutlicher, dass sie nicht mehr wirklich dabei sind, dass sie sich nicht konzentrieren können. Und dann, oft zu Beginn der 9. Klasse, manchmal in wenigen Wochen, werden sie, was das Lernen angeht, von dem Gros der Klasse abgehängt. Sie werden immer häufiger ermahnt und können immer seltener für irgendetwas gelobt werden – und das oft in fast allen Fächern.

Diese Jugendlichen zeigen uns in einem diffusen und doch typischen Erscheinungsbild die Auswirkungen der komplexen Veränderung unserer Lebenswelt. Es ist müßig, im Einzelnen nach den Gründen zu fragen. Es gibt keine bestimmten wohldefinierten Ursachen für ihre Schwierigkeiten – die ja nicht nur Lernschwierigkeiten sind – genauso wenig wie es einfache Mittel gibt, um sie von den Problemen zu befreien.

Und doch müssten wir uns so früh wie möglich, sobald wir die ersten Symptome dafür bemerken, dass sie aus dem Lernprozess der Gruppe aussteigen, fragen: Was können wir jetzt tun? Denn wir wissen ja, welche Richtung die Entwicklung wahrscheinlich nehmen wird. Und wir wissen auch, dass alles, was wir in der Schule und im familiären Umfeld tun können, nur ein Kurieren an Symptomen ist. Weder hier noch dort können wir etwas grundsätzlich an den Rahmenbedingungen ändern. Alles, was wir versuchen, greift nicht tief genug, gemessen daran, wie tief die Schwierigkeiten inzwischen in ihren Lebensgewohnheiten »verankert« sind.

Und da kommt jetzt der Bauernhof wieder ins Spiel: Der Bauernhof, das Leben auf dem Lande, ist zwar kein Allheilmittel, aber es ist tatsächlich eine sehr universelle Hilfe, um das Kind dabei zu unterstützen, die Kräfte zu entwickeln, die es ihm ermöglichen, mit den problematischen Einflüssen unserer »Zivilisation« besser zurecht zu kommen. Und zwar gilt dies – davon bin ich überzeugt – für jedes Kind, für jeden Jugendlichen, ja auch für uns Erwachsene – voraus­gesetzt, die Menschen, die den Bauernhof bewirtschaften, die dort leben und das Land pflegen, bemühen sich um einen liebevollen Umgang mit Stein, Pflanze und Tier. Dann ist der Bauernhof ein Gesundbrunnen für jeden Menschen.

Selbst lernen, was für mich gut ist

Über viele Jahre haben wir hier auf unserem Hof in Estland die Erfahrung gemacht, dass die Kinder, wenn wir ihnen genügend Zeit lassen, sich genau den Dingen zuwenden, die gut für sie sind, die ihnen in ihrer Entwicklung helfen, die ihnen helfen, die vorhandenen Defizite auszugleichen. Ich bin mir sicher, dass nach einiger Zeit die oben erwähnte Clarissa als zwölfjähriges Mädchen genau in dem Stall zu finden gewesen wäre, bei dem Tier, das für sie eine therapeutische Wirkung gehabt hätte. Und sie hätte genau dort geholfen, wo sie ihre Fähigkeiten optimal hätte entwickeln können.

Während Kinder mit anderen Behinderungen ja oft gerade besonders stark im Üben sind und das Lernklima positiv beeinflussen, stören diejenigen, die nicht üben können oder wollen, unbewusst, aber »gezielt« das Lernen der Mitschüler. Sie ziehen so viel Aufmerksamkeit auf sich, absorbieren so viel Energie, dass ein differenziertes Eingehen auf die Bedürfnisse der lernwilligen Kinder sehr erschwert wird. Damit sind, wie die öffentliche Diskussion zeigt, der Akzeptanz der Inklusion – womöglich aber tatsächlich auch ihrer weiteren Entwicklung im Rahmen der Schule – Grenzen gesetzt.

So hat mein Appell, Lebensorte für Kinder auf dem Lande zu suchen, noch einen weiteren Grund: die Hoffnung, die Entstehung vieler inklusiver Häuser des Lernens zu erleichtern.

Gerade um einer späteren Ausgrenzung vorzubeugen, sollten möglichst viele Schüler die Möglichkeit erhalten, im 6. oder 7. Schuljahr eine »Bauernhofzeit« einzulegen. Natürlich gibt es dabei rechtliche und finanzielle Fragen zu bedenken und im Einzelfall muss sicher auch überlegt werden, wie etwas Unterricht organisiert werden kann. Doch das alles ist machbar, wenn die Sache an sich als richtig und notwendig erkannt wurde. Eltern und Lehrer könnten ein Netzwerk aufbauen, eine kleine Organisation, die solche Bauernhöfe sucht, solche Aufenthalte auf dem Lande anbietet und organisiert, vielleicht sogar begleitet.

Ich wäre bereit, vielleicht in Kooperation mit einer bestehenden Einrichtung, in einer Initiative, die das Angebot einer »Bauernhofzeit« entwickeln will, mitzuarbeiten.

Zum Autor: Dr. Markus von Schwanenflügel ist seit 37 Jahren Oberstufenlehrer, zunächst an der Rudolf-Steiner-Schule Bochum, später an der Windrather Talschule; seit 18 Jahren »außerdem« Aufbau des Jugendhof Naatsaku in Estland.

www.naatsaku.de