Schule im 21. Jahrhundert

Ingo Krampen

1. Die Schule der Zukunft ist eine Bürgerschule; sie wird von ihren Lehrern, Eltern und Schülern verantwortet.

»Mit einer solchen Idee wie der Gründung einer Schule muss man sich existentiell identifizieren können, das heißt, immer bereit sein, auf die Anforderungen einzugehen, die das Leben einem stellt und nicht sagen, diese Anforderungen nehmen wir nicht an, das lassen wir andere machen.« (Hardorp 2012)

Schulen in freier Trägerschaft sind heute – rechtlich gesehen – Privatschulen. Zwar ist zum Beispiel die Waldorfschule von Rudolf Steiner als eine Schule für alle Einkommensschichten und alle Nationalitäten konzipiert worden, tatsächlich ist sie aber weitgehend noch eine Schule für Besserverdienende. Es fehlen ihr Kinder aus bildungsfernen Schichten und solche mit Migrationshintergrund. Ausnahmen gibt es. Das Pendant ist die Staatsschule, die zwar für alle Bildungs- und sozialen Schichten zugänglich ist, aber nach vorgegebenen Lehrplänen abläuft.

Dagegen wird die Schule der Zukunft keine Staatsschule und keine Privatschule, sondern eine Bürgerschule sein: keine Einheitsschule mit vorgefertigten Lehrplänen, aber auch keine Leistungs- und Eliteschule. Schon heute gibt es erste Modelle dafür in der öffentlichen Diskussion, vor allem durch den Paritätischen Wohlfahrtsverband. Dessen Modell der Bürgerschule hat im Wesentlichen folgende Merkmale:

• einen gemeinwohlorientierten Träger (in privatrechtlicher oder in öffentlich-rechtlicher Organisationsform)

• weitreichende Schulautonomie (hinsichtlich des Schulprofils, der pädagogischen Konzepte, des Budgets und des Personals)

• eine Pflicht zur Aufnahme aller Schüler im Einzugsbereich; dafür hat sie Anspruch auf eine Vollfinanzierung durch die öffentliche Hand und sie erhebt kein Schulgeld

• einen besonderen Fokus auf sozial benachteiligte Stadträume, um dort mehr Bildungsgerechtigkeit zu verwirk­lichen.

Hinzuzufügen ist das Merkmal, dass alle Betroffenen – Eltern, Lehrer und Schüler – an der Gestaltung der Schule zu beteiligen sind: Wir machen Schule, wir, die Betroffenen, und lassen nicht andere Schule machen – egal ob Staat oder Wirtschaft.

2. Die Schule der Zukunft wird von ihren Lehrern unternehmerisch gestaltet und verantwortet.

»In der Arbeit entwickle ich mich als Mensch. In der bezahlten Arbeit kann ich nicht das tun, was meiner Intention entspricht, sondern muss das tun, was mir zugewiesen wird … Die arbeitsrechtlichen Formen sind ohnehin nichts anderes als die historische Folge des römischen Mietrechts für Sklaven.« (Hardorp 2012)

In fast allen Schulen – in staatlicher oder freier Trägerschaft – arbeiten Lehrkräfte auf der Grundlage von Arbeitsverträgen. Das Grundmuster des Arbeitsvertrages – juristisch ein Unterfall des Dienstvertrages gemäß §§ 611 ff. BGB und rechtshistorisch gesehen eine Ableitung aus der römischen Sklavenmiete – setzt das Bestehen eines Arbeitgeber/Arbeitnehmer-Verhältnisses voraus, in dem der Arbeitnehmer weisungsgebunden tätig ist. In der Befragungsstudie von Dirk Randoll, »Ich bin Waldorflehrer« (2013) sagen 83,4 Prozent der Befragten, sie empfänden sich als Mitgestalter der Schule, aber nur 40,4 Prozent finden, dass Entscheidungsprozesse an der Schule effizient und zielführend realisiert werden.

Bei der Frage, welches die größte Herausforderung für die Waldorfschule der Zukunft sei, entschieden sich 23,5 Prozent für die pädagogische Weiterentwicklung, jedoch nur 3,8 Prozent für die Reform der Selbstverwaltung der Schule. Also: Die Organisationsform der Schule ist für die meisten der heutigen Lehrkräfte kein Thema. Sie arbeiten in längst überholten Rechtsformen, empfinden sich aber dennoch als Mitgestalter. Welch eine Illusion! Sobald bei Konflikten der Arbeitsvertrag aus der Schublade geholt wird, wird dies offensichtlich.

Was noch schwerer wiegt: Die Lehrkräfte leben den Schülern, die ja auf eine Gesellschaft vorbereitet werden sollen, in der Eigeninitiative und Verantwortung gefragt ist, diese Ideale nicht vor, weil sie gut versorgt, aber wenig innovativ in Anstellungsverhältnissen beim Staat, der Kirche oder anderen Arbeitgebern verbleiben. Das könnte aber schon bald anders werden. Insgesamt verschiebt sich derzeit das Verhältnis von unselbstständiger zu selbstständiger Tätigkeit dramatisch und diese Entwicklung wird hoffentlich auch vor Schulen nicht haltmachen. Erst dann haben diese nämlich Lehrer und Lehrerinnen, die sich nicht nur frei fühlen, sondern auch wirklich frei und selbstverantwortlich handeln.

Freiheit und Verantwortlichkeit sind im sozialen Leben identisch. Wer pädagogische Weiterentwicklungen will, muss dafür auch Verantwortung übernehmen, und das ist im Anstellungsverhältnis kaum möglich. Selbstverständlich bestätigen Ausnahmen die Regel: Wirklich initiative Menschen lassen sich auch von Verordnungen, Erlassen und Weisungen nicht aufhalten. Doch sage niemand, falsche Rechts­formen seien kein Problem:

»Die Szene ist rührend«, beginnt der Philosoph Richard David Precht in seinem Buch »Die Kunst, kein Egoist zu sein« das Kapitel »Was Geld mit Moral macht«. Gemeint ist ein Versuch des Leipziger Max-Planck-Instituts für Evolutionäre Anthropologie mit vierzehn Monate alten Kindern: Diese helfen zunächst spontan einem Erwachsenen, der vergeblich versucht (mit einem Stapel Bücher beladen), eine Schranktür zu öffnen.

Ein Teil der Kinder erhält dann zur Belohnung Gummibärchen oder Spielzeuge und genau dieser Teil hilft nach einiger Zeit nicht mehr spontan, sondern nur noch, wenn den Kindern zuvor eine Belohnung versprochen wird. Arbeiten Waldorflehrer wirklich für ihre Schüler oder arbeiten sie doch für die Belohnung, also das Geld? Geld hat eine besondere Magie im sozialen Leben, der sich kaum jemand entziehen kann. Falsche Rechtsformen führen dazu, dass das Geld die Moral bestimmt und das sollten wir zumindest in der Schule verhindern!

3. Die Schule der Zukunft ist gar keine Schule mehr.

»Der Lehrplan der Waldorfschule sollte mit zwei ›e‹« geschrieben werden, er sollte leer sein, nicht Vorformuliertes verordnen, denn: Es sind die Schüler, die den Lehrplan bestimmen, oder noch genauer: Die Schüler sind der Lehrplan – und sie sind bekanntlich nichts Theoretisches.« (Hardorp 2012)

Früher war das Schulverhältnis als sogenanntes »besonderes Gewaltverhältnis« ausgestaltet. Das Rechtsinstitut des besonderen Gewaltverhältnisses ist im Laufe der Rechtsentwicklung für Justizvollzugsanstalten und Schulen parallel entwickelt und verwendet worden. Ähnlich wie für Strafgefangene bewirkte das besondere Gewaltverhältnis für Schüler, dass große Teile der sonst üblichen Rechte außer Kraft gesetzt waren oder besondere Pflichten bestanden. Die Schule ist wie ein Gefängnis als Anstalt konzipiert.

Natürlich gibt es das heute nicht mehr. Aber: Was sind feste Lehrpläne, was Pausenklingeln und Stundenplanraster – egal ob vom Staat, von Maria Montessori oder von Tobias Richter – wenn nicht subtile »Gewaltverhältnisse«? Wieso denken wir, dass wir mit allgemeingültigen Regeln und Inhalten einzelne Individualitäten adäquat erziehen könnten? Wenn wir Inklusion ernst nehmen, heißt das nicht, dass einige Kinder mit besonderem Förderbedarf mit anderen zusammen beschult werden. Für die Schule bedeutet das vielmehr: Wenn alle Schülerinnen und Schüler in den Unterricht der Schule »eingeschlossen« werden sollen, kann es keine allgemeingültigen Lehrpläne oder Curricula mehr geben, keine allgemeingültige Didaktik, keine zentralen Prüfungsaufgaben und keine allgemeinen Studienberechtigungen mehr. Die Inklusion ist – wenn sie ernst genommen wird – das Ende aller Lehrpläne und zentralen Prüfungen. Sie verlangt, dass der Lehrer sich für jeden einzelnen Schüler genau die Pädagogik einfallen lässt, die für diesen Einzelnen in diesem Moment richtig ist – für keinen anderen Schüler und für keinen anderen Augenblick.

Das geht jetzt aber zu weit, höre ich die Pädagogen unter Ihnen sagen. Sicher richtig: Das geht vielleicht über die bisher vermittelten Fähigkeiten und Fertigkeiten einiger heute tätigen Lehrkräfte hinaus. Mag sein. Aber zum einen wäre das ja erst einmal zu erproben. Zum anderen gibt es Fortbildungen. Und langfristig ist das Gelingen von Inklusion auch und vor allem eine Frage der Reform der Lehrerausbildung – darüber besteht kein Zweifel. Alle Bedenken gegen eine immer stärkere Individualisierung und Vielfalt von Bildung und Erziehung, die sich auf die tatsächliche Situation der Schüler und der Lehrkräfte beziehen, können nicht verhindern, dass die Entwicklung der Pädagogik weitergeht und neue Fähigkeiten der Lehrkräfte sowie eine Auflösung der letzten Reste des Anstaltscharakters der Schule verlangen wird.

Schulen und Lehrkräfte, die sich auf die mit Inklusion verbundene Revolution aller pädagogischen Methoden nicht einstellen, werden »vom Leben bestraft« werden und langfristig scheitern. Die anderen werden freie Lebensräume für Schüler schaffen, die ihren Lehrplan mit ihren Lehrern zusammen selbst erfinden.

Redaktionell überarbeitete Ansprache zum 85. Geburtstag von Benediktus Hardorp, der am 7. März 2014 verstarb.

Zum Autor: Ingo Krampen ist Rechtsanwalt, Notar und Mediator. Er war 1990 Mitbegründer des Europäischen Forums für Freiheit im Bildungswesen (www.effe-eu.org), dessen Vorstandsmitglied er heute noch ist. Er berät Schulen und andere gemeinnützige Einrichtungen und ist Aufsichtsratsvorsitzender der Hannoverschen Kassen (www.hannoversche-kassen.de), Kuratoriumsvorsitzender des Instituts für Bildungsforschung und Bildungsrecht (www.institut-ifbb.de), Aufsichtsratsmitglied der GLS Treuhand und Mitglied des Stiftungsrats der Zukunftsstiftung Bildung der GLS Treuhand (www.gls-treuhand.de). Er ist Mitherausgeber des Handbuchs Keller/Krampen, Das Recht der Schulen in freier Trägerschaft, Nomos-Verlag 2014.

Literatur: Festschrift: Benediktus Hardorp im Gespräch, Mannheim 2012 | Jörg Ennuschat: Die Bürgerschule. Der Rechtsrahmen für Organisation, Betrieb und Finanzierung eines innovativen Schulmodells, Gutachten für den Paritätischen Gesamtverband, 2012 | Dirk Randoll (Hrsg.): Ich bin Waldorflehrer, Wiesbaden 2013 | Richard David Precht: Die Kunst, kein Egoist zu sein, München 2010