Gemeinschaftlichkeit ist der stärkste Nachhaltigkeitsfaktor

Erziehungskunst | Eine fertige Schule einerseits, andererseits der sich ständig verändernde Mensch. Wie reagieren Sie als Schulbauarchitekt auf dieses Spannungsver­hältnis?

Nikolaus von Kaisenberg | Die Entwicklung von Schule steht tatsächlich in Spannung mit dem Schulhaus als fertigem Objekt und mit den Menschen, die in ihnen leben und arbeiten. Dieses Spannungsfeld kann pädagogisch fruchtbar gemacht werden. Schule ist heute ein Ganztagsgeschehen mit zunehmendem Einfluss auf das Leben der Kinder. Wenn Schule früher Bestandteil einer sozialen Ordnung war, wird sie nun selber Ausgangspunkt eines neuen Lebensgefüges. Die Aufgabe der Schule wandelt sich. Das neue Lernen heißt Leben. Dem möchte eine neue Pädagogik und auch eine neue Architektur Raum geben.

EK | Wie sieht diese neue Architektur aus, und was geschieht mit der Idee des Lebendigen oder Organischen?

NvK | Können wir als Gestalter zulassen, dass bauliche Anlagen, die Einrichtung und die Möbel genauso unfertig sind, wie das Leben selbst? Was suchen die Kinder auf? Sie gehen in der Pause dorthin, wo der Außenraum am wenigsten vorbestimmt ist, wo sie Freiraum finden für eigene Impulse zum Spielen (siehe Bild 1). Schon der Pädagoge Janusz Korczak warnte aus eigener Erfahrung vor der Idee des Fertigen und insbesondere vor fertiger Ausstattung. Als er mit 200 Waisenkindern, die bisherigen Unterkünfte in Warschau verließ und ein neues Wohnhaus bezog, kam die solidarische Mitarbeit der Kinder zum Erliegen. An den bisherigen provisorischen Unterkünften liebten sie das praktische Zusammenleben. Im neuen Haus war die Einrichtung perfekt, es gab für sie nichts mehr zu tun. Nicht einmal ein Nagel für die Jacke konnte noch in die Wand geschlagen werden.

Bild 1

EK | Wie könnte diese Mitwirkung konkret aussehen?

NvK | Immer wenn im Werkunterricht ein Salatbesteck entsteht, könnten auch neue Griffe für die Klassenzimmertür geformt werden (siehe Bild 2). Aha, so fühlt sich die Türgriff-Klasse dieses Jahr an, würden dann die Besucher sagen. Handlungspädagogik sucht konsequentere Formen der Selbstwirksamkeit, in allen Lebensbereichen. Aber auch fächerübergreifende Unterrichtsprojekte können eine Schule dem Leben näherbringen. Zurecht weisen die Heranwachsenden eine Haltung, Schule sei Vorbereitung aufs Leben, in der bisherigen Form zurück: Sie fordern unbewusst: Hier ist unser kostbares Leben, und zwar jetzt!

Bild 2

EK | Reichen dafür individuell gestaltete Türgriffe und fächerübergreifende Unterrichtsprojekte aus?

NvK | Die Schulen sind heute weitgehend reglementiert, was sich auch in der Bauform ausdrückt. Doch man beginnt jetzt Stück für Stück Schule zu renaturieren, das Leben soll in die engen Resträume des Tages- und Wochenablaufes zurückgebracht werden. Doch ein prinzipieller Wechsel steht an: Es soll ein Lebensfluss gestaltet werden, in dem das Lernen organisch eingebettet ist. Waldorfschulen könnten das (siehe Bild 3 und Bild 4).

Bild 3 und 4

EK | Was wären die konkreten architektonischen Folgen?

NvK | Auf der funktionalen Ebene benötigt man Raum für variable Arbeitsformen und die unterschiedlichen Formen des sozialen Lernens, also für das Lernen des Einzelnen, für Arbeit im Tandem und in der Kleingruppe, aber auch für Inputphasen in der klassischen Frontalanordnung. Dabei werden die Verkehrsflächen einbezogen als möblierbare Dielen, nicht nur zum Arbeiten, sondern auch zum Träumen und Entspannen. Darüber hinaus beachtet dieser erweiterte Funktionsbegriff, dass Kinder weiterhin vier klare Anforderungen an Schulhäuser stellen: Ist deine Körperlichkeit solide, vertrauenswürdig und mit der Schwerkraft im Einklang? Wie steht es um deine Vitalität, um die spannenden Verhältnisse von eng und weit, hell und dunkel? Wie guckt das Haus aus der »Wäsche«? Wieviel Form- und Farbgebung zeigt es? Und schließlich die nach der sozialen Kompetenz eines Hauses zwischen anderen: Zeigt es » Bewusstsein « vom nächsten Baukörper und für das Gesamtensemble durch Abwendung, Hinwendung oder durch Neutralität? Diese Baugesten müssen auf die verschiedenen Altersstufen unterschiedlich abgestimmt sein (siehe Bild 5):

Bild 5

Die Jüngsten brauchen Schutz und Geborgenheit. Aber dann geht es bald schon um genügend Freiräume für die eigene Welt- und Selbsteroberung sowie für selbstständige Werke, die immer größer und komplexer werden bis in den außerschulischen Raum hinein. In der Oberstufe sind Transparenz und Anbindung an den urbanen Kontext, den Weltzusammenhang gefragt.

EK | Sie sprechen im Zusammenhang mit der Planung eines Baues von Prozessarchitektur – wie ist das zu verstehen? 

NvK | Erst kommt der Weg, dann das Werk. Das Bauwerk spiegelt alle Höhen und Tiefen des Entwicklungsweges, an dem bei einer Schulgemeinschaft alle Betroffenen beteiligt sind. Als junger Architekt ist man leidenschaftlicher Objektdesigner. Das Ingenieurstudium lehrt, wie man Balken verbindet. Aber wie verbindet sich eine Gruppe von Menschen zu einem Werkprozess? Nachdem Architektur seit der Renaissance zu den Bildenden Künsten gerechnet wurde, aus denen die Ingenieurwissenschaften hervorgingen, kann sie nun eine Menge von den Darstellenden Künsten lernen, für die sich heute auch die Sozialwissenschaften interessieren. Jetzt werden zum Beispiel folgende Fragen wichtig: Wodurch reift das Drehbuch für ein Projekt? Wie gehen die Rollenverteilung und Choreographie der Zusammenarbeit? In welchen Schritten ordnen sich Abläufe?

Aus den sozialkünstlerischen Prozessen in Raum und Zeit (siehe Bild 6) lässt sich nicht nur das Planen und Bauen, sondern auch ein pädagogisches Konzept ableiten.

Bild 6

EK | Worauf kommt es bei diesen Prozessen an?

NvK | Der Schlüssel und die Aufgabe liegen in der Gemeinschaftlichkeit. Unterschiedliche Sichtweisen werden artikuliert. Sie reichern die Wahrnehmungen und Ideen an, aus denen sich Lösungsansätze herauskristallisieren, die konsens- und tragfähig werden können. Darum ist Gemeinschaftlichkeit auch der führende Nachhaltigkeitsfaktor. Sie bildet die Basis für alles weitere. Allerdings verzichtet dieser Prozess zunächst auf Argumentation und Diskussion, er gründet auf gemeinsamen Erfahrungen, aus denen erst eine gemeinsame Sprache entsteht. Dabei erkunden die Teilnehmer zunächst zwei Standorte: den geistigen Standort » oben «, an dem der pädagogische Leitstern der Schule angesiedelt ist. Und dann das geografische Grundstück » unten «, auf dem die Pädagogik sich baulich manifestieren soll. Solch eine Gruppe kann das pädagogische Konzept und die dazugehörige Architektur gleichzeitig entwickeln, als pädagogische Architektur.

EK | Wenn man nun eine gemeinsame Sprache und die Gruppe sich gefunden hat: Wie einigt man sich dann auf einen Entwurf und zum Beispiel darauf, dass man nachhaltig bauen möchte. Bio-Bauten sind ja schließlich teurer als konventionelle?

NvK | Eine gemischte Arbeitsgruppe verfügt bald über einen angereicherten Fundus sachkundiger Ideen, die sie mit Augenmaß verschiedenen Sieben der Machbarkeit unterzieht. Der treffende Lösungsansatz kristallisiert sich aus der gemeinsamen Anschauung heraus. Er ist sozial dauerhaft tragfähig. Wenn Gebäudekonzepte auf Anforderungen der Umwelt und des Menschen Rücksicht nehmen sollen, können sie viel mehr als konventionelle Konstruktionen. Sie sind aufwändiger und zunächst auch etwas teurer, denn sie nehmen schon Maßnahmen vorweg, die sonst später anfallen. So ist ein demontierbarer Holzbau ein Segen für das Innenraumklima und zugleich für das globale Klima. Statt einer vorgefassten Lehranstalt können Kinder heute intelligenten und flexiblen Low-Tech-Gebäuden begegnen, die sie als Lernumfeld genauso in sich aufnehmen wie den Unterrichtsstoff.

Die Fragen stellte Mathias Maurer.