Schulsozialarbeit an der Rudolf Steiner Schule Berner Oberland

Rebecca Romano, Verena Gantner

Die Aufgabe, grundlegende soziale Kompetenzen einzuüben, sprengt oft den regulären Unterricht. Die Heterogenität in den Klassen nimmt zu. Zudem ist bei vielen Kindern ein gesteigerter sozialpädagogischer Bedarf feststellbar. Gleichzeitig fällt es Kindern zunehmend schwerer, sich in das soziale Klassengeschehen einzufügen.

Je weniger Kinder in ein stabiles Familiensystem eingebunden sind, desto mehr Bedeutung gewinnt die Schule als Ort der Wertevermittlung, als Lebenskräfte stärkende und Beziehungen pflegende Gemeinschaft und als Ort der Sozialisierung. Während eine wachsende Zahl an Kindern als hochsensibel einzustufen ist, nimmt die Fähigkeit anderer Kinder zur Impulskontrolle und Konzentration ab. Lehrer können die dadurch entstehenden Aufgaben kaum mehr bewältigen.

Als Antwort auf die genannten Probleme führte die Rudolf-Steiner-Schule Berner Oberland (RSS BO) die Schulsozialarbeit ein. Zum Schuljahresbeginn 2012 begannen zwei Sozialarbeiterinnen, die sich zu zweit eine 50-Prozent-Stelle teilen, nach einem im Kollegium ausgearbeiteten Konzept, mit vielen Zielen, dem nötigen Enthusiasmus, aber auch manchen offenen Fragen.

Eine Anschubfinanzierung über zwei Jahre durch die Arbeitsgemeinschaft der Rudolf-Steiner-Schulen Schweiz (Arge) verhalf dem Projekt zur Realisierung.

Das sind seine Aufgaben und Ziele:

• Die Schulsozialarbeit steht auf der menschenkundlichen Grundlage der Waldorfpädagogik.

• Sie ist ein freiwilliges, schulergänzendes Angebot. Im Vordergrund steht, dass sie einen Beitrag zur gesunden Entwicklung der ihr anvertrauten Kinder leistet.

• Sie bietet vor Ort Hilfe und Beratung bei sozialen und persönlichen Problemen der Kinder und Jugendlichen (zum Beispiel in Form von Klasseninterventionen).

• Sie ist Vertrauens- und Vermittlungsstelle für Konflikte zwischen Schülern, Eltern – Kindern – Lehrkräften bei klassenübergreifenden Spannungen.

• Sie fördert und pflegt die Kooperation mit Fachstellen und Behörden.

• Ihr Ideal ist die Weiterentwicklung der sozialen Kompetenzen aller Beteiligten. Dazu gehören Konfliktfähigkeit, Kooperationsbereitschaft und ein bewusstes Erüben der Kommunikation.

Neutrale Anlaufstelle

In der Praxis zeigte sich bald, dass insbesondere das Vertrauensverhältnis zu den Lehrkräften entscheidend ist. Eine besondere Sensibilität erfordert es, den Anspruch auf Transparenz allen Beteiligten gegenüber mit dem Vorsatz auszugleichen, als neutrale Anlaufstelle die Schweigepflicht einzuhalten.

In Konflikten zwischen Lehrkräften und Eltern hilft es oft bereits, die unter Umständen stark widersprüchlichen Wahrnehmungen eines Kindes zu thematisieren. Kritik, die im Rahmen eines moderierten Gespräches zwischen den betroffenen Menschen ausgesprochen wird, sollte, anstatt negativ zu wirken, zur Weiterentwicklung beitragen.

Die Integrität der Schüler wird garantiert

Die Kooperation mit der Schulleitung erwies sich von Beginn an als wichtig, zum Beispiel, um in Gefährdungssituationen, bei denen das Kindeswohl als nicht gesichert erschien, sei es wegen Verdacht auf Gewaltanwendung  oder -zeugenschaft, sexueller Übergriffe oder Vernachlässigung, schnellstmöglich weitere Handlungsschritte einleiten zu können. In der Schweiz sind Lehrkräfte seit Januar 2013 verpflichtet, bei Verdacht auf Gewaltanwendung oder Verletzungen der sexuellen Integrität die Kinderschutzbehörden zu informieren. Kommen Schulen dieser Verpflichtung nicht nach, machen sie sich strafbar. Daraus ergeben sich Anforderungen, denen professionell entsprochen werden muss. Untereinander haben sich die Rudolf-Steiner-Schulen zusätzlich verpflichtet, dass sie der »Meldestelle für besondere Konfliktfälle« der Arbeitsgemeinschaft regelmäßig Rechenschaft ablegen.

Zu den Aufgaben der Schulsozialarbeit gehört es, ein schulinternes Präventionskonzept zur Wahrung der physischen, psychischen oder sexuellen Integrität der Schüler einzuführen und laufend zu aktualisieren. Dafür werden die Vorgaben des Kantons sowie Anregungen der Fachstelle Arge der Schule angepasst. Das Kollegium ist im Rahmen der Pädagogischen Konferenz in die Thematik »Gewalt, Grenzverletzung, Sexualität« einbezogen, so dass alle sensibilisiert werden.

Ein »Ideenbüro« wird gegründet

Schnell eröffneten sich weitere Einsatzbereiche der Schulsozialarbeit. So übernahm sie das bereits vor fünf Jahren in der Schule eingeführte »Ideenbüro«, ein schweizweit praktiziertes Instrument der Schülerpartizipation, erweiterte es und passte es an die Bedürfnisse und Möglichkeiten der Schule an. Es ist im wöchentlichen Stundenplan etabliert. Mit Neuntklässlern werden dabei Ideen aus der Schulgemeinschaft umgesetzt, Jahresfeste mitgestaltet, Hausaufgabenhilfen angeboten, es wurde Fundraising betrieben und ein Pausenkiosk eingerichtet. Diese Aufgaben entsprechen dem Wunsch der Schüler nach Selbstwirksamkeit und Gemeinschaft, sie sind einsatzbereit und stellen der Schule bereitwillig Zeit und Ideen zur Verfügung.

In mehreren Klassen intervenierten die Sozialarbeiterinnen auf Anfragen von Lehrkräften oder Schülern. Die Themen reichten von »Ausgrenzung und Courage«, »Spielregeln, Streitregeln« zu »Mädchen-Jungen«. Gearbeitet wird mit Elementen des themenzentrierten Theaters, der Streitschlichterarbeit oder bei Oberstufenklassen mit Methoden aus der gruppendynamischen Prozesssteuerung. Ein Forum für diese sozialen Fragen bietet das in diesem Schuljahr als Versuch eingerichtete Fach »Lebensschule«. Es ist im Stundenplan der Oberstufe mit einer Wochenlektion integriert. Die Rückmeldungen seitens der Schüler und Schülerinnen fielen durchweg positiv aus.

Kinderbesprechungen und Elterngespräche

Gemeinsam mit dem Kollegium haben wir einen Handlungsplan erarbeitet, nach dem wir bei besonderen Kindern verfahren, die meistens von Lehrkräften gemeldet werden. Im Anschluss an die seit langem in der Waldorfpädagogik praktizierte Kinderbesprechung werden Elterngespräche geführt und es wird die Situation des Kindes abgeklärt. Sind weitere Untersuchungen notwendig, werden die Kinder an die entsprechenden Behörden oder Ärzte vermittelt und gegebenenfalls begleitet. Daraus resultieren Zielvereinbarungen, Maßnahmen und konkrete Unterstützung sowohl schulischer als auch familiärer Art. Diese Abläufe werden protokolliert und zwischen den Lehrkräften, Eltern, Therapeuten und Behörden kommuniziert. Die gute Vernetzung ist unerlässlich, besonders bei schwerwiegenden Krisen­situationen, der psychischen Erkrankung eines Kindes oder dem Zusammenbruch eines fürsorgeberechtigten Elternteils. Die Kooperation mit Fachstellen wie der Drogenberatungsstelle, dem Jugendbeauftragten der Kantonspolizei, der Erziehungsberatung, der Offenen Jugendarbeit, der Kinder- und Erwachsenenschutzstelle, den Sozialämtern, Therapeuten und Ärztinnen, wurde intensiv gepflegt und erwies sich in zahlreichen Fällen als überaus nützlich.

Deeskalierende Wirkung

Innerhalb des Arbeitskreises »Intervisionstreff Schulsozialarbeit Kanton Bern« bilden wir uns regelmäßig fort und vernetzen uns fachlich. Zum Abschluss der Finanzierungsphase durch die Arbeitsgemeinschaft wurden die ersten zwei Jahre evaluiert und ein Bericht verfasst. Die Erfahrungen sollen allen Rudolf Steiner Schulen zur Verfügung gestellt werden.

Bilanziert werden kann, dass die Schulsozialarbeit zu einem festen Bestandteil der Schule geworden ist. Die Schulleitung konstatiert eine große Entlastung und nutzt die Möglichkeiten der Delegation.

Von den Lehrkräften wird die Sozialarbeit unterschiedlich in Anspruch genommen. Skepsis besteht bei manchen Kollegen hinsichtlich der traditionellen Rolle als allein verantwortliche Lehrkraft, andere nutzen die angebotene Unterstützung regelmäßig. Als Hauptursache ihrer enormen Belastung nennen viele weniger das eigentliche Unterrichten, als vielmehr die zahlreichen Konflikte mit Eltern, Kollegen und Schülern sowie die unbefriedigende Feststellung, manchen Kindern mit besonderem Bedarf trotz bester Absichten nicht gerecht werden zu können.

Hier konnte die Schulsozialarbeit in zahlreichen Fällen präventiv wirken, konkrete Hilfestellung anbieten, deeskalieren, als Schaltstelle zu Fachstellen fungieren oder eine möglichst von Enttäuschungen, Verletzungen und Vorwürfen bereinigte Trennung moderieren, wobei die jeweiligen Konfliktparteien sich nach den Regeln der Mediation aussprechen können. Regelmäßig kommen einzelne Schüler in die Sprechstunde, wobei die Initiative bisher mehrheitlich nicht direkt von den Kindern, sondern von Eltern, Lehrkräften oder von ihren Mitschülern ausgeht.

Das Büro der Schulsozialarbeit befindet sich im obersten Stock der Schule. Mit einem grünen Sofa und Teekocher ausgestattet bietet es sich im Schulalltag immer wieder als Timeout-Station an. Aus verschiedensten Gründen kommen die Schüler, in der Regel auf Geheiß von Lehrkräften, mitten aus ihrem Klassengeschehen heraus und nutzen diese betreute Pause.

Viele Eltern zeigen sich dankbar. Sie äußern, dass sie die Anlaufstelle als Unterstützung erleben. Enttäuschungen gab es, wenn die Schulsozialarbeit elterliche Aufträge nicht erwartungskonform ausführen konnte und eine neutrale Position vertrat. Die Gespräche dienen der Klärung und Vermittlung und werden mit Methoden aus der Systemischen Beratung und Mediation gestaltet.

Therapeutische Behandlung gehört nicht zum Aufgaben­gebiet der Schulsozialarbeit, sie verfügt aber über ein Netz an Kontakten zu Therapeuten und hilft Familien, das für sie passende  Angebot zu finden. Die Gemeinschaftsbildung gehört grundlegend zum Profil der Waldorfschulen. Daran kann die Schulsozialarbeit anknüpfen und ihren Platz in der Lebensgemeinschaft Schule einnehmen.

Zu den Autorinnen: Rebecca Romano ist Primarlehrerin, Dozentin an der PH Bern und leitet die Taskforce für Prävention und Intervention an Schulen. Verena Gantner ist Sozialtherapeutin, Fachwirtin für Organisation&Führung/Sozialwesen und Systemische Familienberaterin.

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