Schulstress. Alle haben ihn, keiner will ihn – Wie gelingt der Ausstieg?

Kirsten Schreiber

Es herrscht Druck auf allen Ebenen: auf Schülern, Lehrern, Eltern, das Familienleben leidet fast täglich. Stress belastet, macht krank, raubt Energie, insbesondere dann, wenn zwischenmenschliche Beziehungen eine Rolle spielen, wenn Erwartungen und Bewertungen mit im Spiel sind, wenn wir mit Menschen zu tun haben, die uns wichtig sind. Nicht nur Kinderärzte schlagen Alarm, auch bei Therapeuten steht das Thema mit an erster Stelle der Behandlungsgründe. Aber sind wir dem Schulstress wirklich ausgeliefert? 

Wille zur Veränderung statt Resignation

Die Teilnehmer jedenfalls waren bereit, an dieser leidvollen Situation etwas zu ändern und machten sich mit Lehrern, Medizinern, Therapeuten, Sozialarbeitern, Eltern und Schülern auf den Weg. Dem Veranstalter war es wichtig, Vertreter diverser Schulformen und Bildungsniveaus an einen Tisch zu bringen. Der Austausch und die Ideenentwicklung auf Augenhöhe zwischen Waldorfschulen, Gymnasien und Brennpunktschulen ist gelungen. Das Veränderungspotenzial liegt auf der Hand: Das beste »Vitamin« gegen Stress sind gute Beziehungen. An den Schulen betrifft das nicht nur die Schüler-Lehrer-Beziehungen, sondern alle Beteiligten. Eine gute Beziehung macht aus, dass sich jeder gesehen und verstanden fühlt. Zu oft wird aneinander vorbeigeredet, werden Forderungen aufgestellt, wird ein überwiegend defizitorientiertes Bewertungssystem gepflegt.

Der Kindheitsforscher und Buchautor Michael Hüter (Kindheit 6.7) referierte darüber, weshalb unser Schul­system zu dem geworden ist, was es heute ist. Er brachte es auf den Punkt: Nicht darauf warten, dass sich »von oben« etwas ändert, sondern mit Veränderungen im Kleinen anfangen, bei uns persönlich und im Miteinander.

Heute solle die Persönlichkeitsentwicklung des jungen Menschen die wichtigste Rolle spielen. Wird das Bildungssystem diesem Anspruch gerecht? Wie prägt unsere Gesellschaft den jungen Menschen, wenn wir auf das Thema Stress schauen? Was richten wir da an?

Angelika Traßl, Waldorflehrerin aus Heidenheim, berichtete in ihrem Vortrag, wie inflationär ihr der Stressbegriff im Alltag begegne: die Mutter, die morgens gestresst ihre Kinder in der Schule abgibt, der Kollege im Lehrerzimmer, den die Lautstärke der Klasse stresst und die Zweitklässlerin, die kundtut, dass sie gestern Nachmittag solchen Stress hatte. Stressempfinden geht mit Zeitdruck, Reizüberflutung, Multitasking und der Beschleunigung des täglichen Lebens einher. Aber kokettieren wir nicht auch damit, gestresst zu sein?

Veränderung im Kleinen bedeutet zunächst einmal, sich selbst den Spiegel vorzuhalten und sich selbstkritisch zu hinterfragen.

Stress ist gesellschaftlich attraktiv

Mal ehrlich: Wenn alle um uns herum über Stress klagen, käme nicht das schlechte Gewissen in uns auf, wenn wir nicht gestresst wären? Alle wirbeln um uns herum, stöhnen und schwitzen, klagen über Stresssymptome und wir sitzen gelassen mittendrin, sind die Ruhe selbst, widmen uns gerade einer kleinen Achtsamkeitsübung und räkeln uns mit den Worten: »Och, mir geht’s gut.« Wer würde sich das schon trauen und damit seine Gesellschaftsfähigkeit aufs Spiel setzen? Wer Stress hat, ist wichtig, hat viel zu tun, wird gebraucht, leistet viel, ist berechtigt, Rücksicht und Verständnis einzufordern und hat immer einen Rechtfertigungsgrund, wenn er mal keine Zeit hat. Dabei bedeutet keine Zeit zu haben lediglich, andere Prioritäten zu setzen. Aber wie klingt das: »Ich kann heute nicht zum Elternabend kommen, ich setze andere Prioritäten.« … Wer nicht am Ende des Tages erschöpft ist, hat nichts geleistet und wer nicht erschöpft ist, hat keinen Anspruch auf Erholung. Wer glaubt, dass sich Vorbild­lernen auf das erste Jahrsiebt beschränkt, der irrt!

Was kann Schule dem Stress entgegensetzen?

Wenn wir wirklich etwas verändern und aus dem generationenübergreifenden Teufelskreis aussteigen wollen, dann müssen wir zunächst vorleben und vermitteln, dass nicht Stress attraktiv ist, sondern Resilienz und Achtsamkeit, positive Beziehungsgestaltung. Stress und Überforderung sollten aus den Schulen verbannt werden.

Dazu gehöre es, offensichtliche Dinge wie Mobbing und Formen emotionaler Gewalt aus dem Schulalltag zu verbannen, so die Psychologin Serena von Trott. In Zeiten, in denen körperliche Gewalt tabu sei, dürfe die traumatisierende Wirkung emotionaler Gewalt nicht verdrängt werden. Und dazu zählten mitunter schon der Entzug von Aufmerksamkeit oder Liebe, abwertende Beurteilungen oder Demütigungen. Emotionale Gewalt wirke oft im Verborgenen und stehe körperlicher Gewalt in nichts nach. Beiden gemein ist, dass die seelische Belastung und die erlebte Angst dazu führen, dass der Körper ständig in Alarmbereitschaft versetzt wird und vermehrt Stresshormone wie Cortisol und Adrenalin ausschüttet. Die gesundheitlichen Folgen sind bekannt.

In den erfrischenden Podiumsdiskussionen ging es vor allem um realisierbare Vorschläge. Freiwillige Hausaufgaben wurden einstimmig durch alle Professionen gefordert. Oder ein späterer Schulbeginn ab 9.00 Uhr, der nicht nur dem krankmachenden chronischen Schlafmangel von Schülern entgegenwirken, sondern allgemein für weniger Stress und für mehr Konzentration und Ausdauer sorgen würde. Aus der Beobachtung heraus, dass die Lust am Lernen durch die Pflicht zu lernen, während der Schulzeit abnimmt, wurde sogar die Schulpflicht kritisch hinterfragt. Schließlich ist intrinsisch motiviertes Lernen nachhaltiger, als von außen gefordertes (extrinsisches) Lernen. Dass Lehrer gesund und motiviert bleiben, war allen ein Anliegen, verbunden mit dem Wunsch nach Supervision – ein Angebot, das in anderen pädagogischen Tätigkeitsfeldern als Maßnahme der Psychohygiene und Qualitätssicherung selbstverständlich ist.

Es wurden Netzwerke zu diesen Themen gegründet und erste Verabredungen getroffen, um vom Wollen ins Handeln zu kommen, denn einiges lässt sich ganz bestimmt bewegen.

Zur Autorin: Kirsten Schreiber ist Sozialpädagogin, Paar- und Familientherapeutin sowie Mitglied der Geschäftsführung am Familienforum Havelhöhe, Berlin, wo regelmäßig Präventions- kurse und eine Fachqualifikation zum »multimodalen familienzentrierten Stressmanagement®« stattfinden.

Nächster Termin: 28.6. – 4.7.20.

www.familienforum-havelhoehe.de