Schwäne sind schwarz und Pubertierende kiffen

Mathias Wais

Mein Fazit nach 30 Jahren in der beratenden und therapeutischen Arbeit mit Jugendlichen ist: Es gibt kein Fazit. Verallgemeinerungen und pauschale Behauptungen werden dem einzelnen Jugendlichen nicht gerecht. Meine Versuche, Gespräche zwischen Jugendlichen und ihren Eltern auf den Weg zu bringen, wurden regelmäßig von den Vorurteilen und Befürchtungen der Eltern erschwert, die sie auf ihr pubertierendes Kind projizierten und aus denen sie ihr pädagogisches Handeln ableiteten. Aus einzelnen Beobachtungen – der Vierzehnjährige hat »null Bock«, nach der Schule lange Gespräche mit seiner Mutter zu führen – wird das allgemeine Urteil abgeleitet: »Jugendliche schotten sich gegen ihre Eltern ab.«

Der fünfzehnjährige Alex geht mit seinen Freunden lieber zum Rockfestival in der Burgruine, als mit seiner Familie zu Tante Ernas achtzigstem Geburtstag. Dann heißt es: »Jugendliche haben keinen Familiensinn.« – Die andere Quelle solcher Pauschalsätze ist entwicklungspsychologisches Halbwissen: »Man« weiß, dass Jugendliche Weltverbesserer sind, dass Jungs ab vierzehn nur noch Sex im Kopf haben, dass die Heranwachsenden in dieser Altersgruppe drogenge­fährdet sind. Die Nutzlosigkeit, ja Schädlichkeit solcher Ansichten für den Umgang mit Jugendlichen erweist sich zwar jeden Tag aufs Neue, aber man lernt nichts daraus.

Man hat ein paar schwarze Schwäne gesehen und schließt daraus: »Schwäne sind schwarz.« Man kennt im persön­lichen Umfeld zwei kiffende Fünfzehnjährige und schließt: »Jugendliche sind drogengefährdet.« Die meisten Schwäne sind aber weiß und die meisten Jugendlichen kiffen nicht, jedenfalls nicht andauernd. Geht man nun mit dem nicht-kiffenden oder mal gelegentlich kiffenden Jugendlichen misstrauisch um, so als sei er drogengefährdet, wird der Silberfaden zerreißen, der Jugendliche und Erwachsene noch verbindet. Jeder ist ein anderer. Entwicklungsgesetze, psychologische Kenntnisse oder menschenkundliche Gewissheiten sind der Bezugsrahmen für das Erkennen und Verstehen des Individuums, ersetzen aber nicht die Wahrnehmung der Individualität.

Die Gemeinschaft Gleichaltriger als Zuflucht

»Jugendliche haben keinen Familiensinn« – das sagt Frau M., die sich vor fünf Jahren vom Vater des jetzt fünfzehnjährigen Patrick getrennt hat. Patrick hat sich kurz danach einer Musikgruppe angeschlossen, deren Mitglieder ihre Freizeit zusammen verbringen. Patrick sagt ganz klar, was die Gruppe für ihn bedeutet: »Das ist meine Familie.«

Fast 50 Prozent der jungen Menschen haben eine Trennung der Eltern miterlebt, sie leben zwischen den Stühlen, die meisten versorgungstechnisch bei der Mutter, innerlich aber oft beim Vater, den sie allenfalls am Wochenende sehen. Andere kennen ihren Vater gar nicht.

Wo die Familie im bürgerlichen Sinn intakt ist, ist sie dem Jugendlichen Hintergrund, der Sicherheit gibt für den Umgang mit der Gemeinschaft draußen. Wo die Familie nur im äußeren Sinne intakt ist, innen aber Zerwürfnis, Feindschaft oder Gleichgültigkeit herrschen, was der Jugendliche scharf beobachtet und kritisiert, läuft es am Ende auf ernüchterten Rückzug hinaus. Frau T. sagt: »Unsere Penny mischt sich in unsere Ehe ein. Sie will uns Vorschriften machen, verbringt aber das Wochenende nur bei ihrer Freundin.« Penny sagt: »Ich versuche zu vermitteln zwischen den beiden. Es geht nicht. Wenigstens am Wochenende kann ich bei der Familie meiner Freundin unterkommen.«

Manche geraten nach der Trennung der Eltern in eine Schiedsrichterrolle oder werden zum Briefträger funktionalisiert: »Sag deinem Vater, wenn er nicht bald den Unterhalt überweist, gehe ich zum Amt.« Und von der anderen Seite hört das Kind: »Sag deiner Mutter, dass ich nicht mehr bereit bin, ihr Luxusleben zu finanzieren.« Ein solcher junger Mensch ist alleine und auf sich verwiesen. Die Gemeinschaft ist seine Zuflucht.

Erstaunlicher Pragmatismus

»Mein Sohn besteht nur noch aus Rebellion, wie das in der Pubertät halt so ist«, sagt Frau K. Wie kommt sie darauf? Sie: Erstens sei das ja allgemein bekannt, zweitens verweigere sich ihr Patrick »ständig«. Er wolle den Müll nicht zur Mülltonne vors Haus, seine Schmutzwäsche nicht zum Wäschekorb bringen und sein Zimmer nicht aufräumen. Der Junge selbst sagt mir, er habe Wichtigeres zu tun: In der DRK-Jugend ist das nächste Jahrestreffen vorzubereiten; für die Schule stehe ein Referat an über Martin Luther King. Das Thema habe er sich selbst ausgesucht. Wo ist da die Rebellion, die »typische«? Ich habe in Gesprächen mit Jugendlichen viel Kritisches gehört über Lehrer, über Eltern, aber nie etwas grundsätzlich Kritisches über das Schulsystem zum Beispiel oder über Ausbildungsbedingungen. Ich habe von Sorgen gehört, ob eine angestrebte Ausbildung auch erreichbar ist, ob man seinen beruflichen Weg finden wird, ob man eines Tages genug Geld verdienen wird, um sich eine Wohnung und eine Familie leisten zu können. Ich habe nie von einer grundsätzlichen Rebellion gegenüber den »Verhältnissen«, »der Gesellschaft« gehört, sondern im Gegenteil einen für mich erstaunlichen Pragmatismus erlebt: Schon Fünfzehnjährige können Wege und Umwege ihrer avisierten beruflichen Laufbahn planen, haben sich über Förder- und Stipendienmöglichkeiten schlau gemacht.

Von »rebellisch« sprechen Eltern, wenn Jugendliche nicht das tun, was sie aus der Sicht der Eltern tun sollten. Dies betrifft immer private, familiäre Dinge: Das eigene Zimmer putzen, eine andere Musik hören, Mutter oder Vater Recht geben. Wenn dann sanktioniert wird (»Eine Woche Computerverbot!« und ähnliche Absurditäten elterlicher Gerichtsbarkeit) zieht sich der Jugendliche zurück in sein Zimmer und kommuniziert nicht mehr. Und die Eltern sagen: »Er ist rebellisch geworden.«

Die Pille mit sechzehn

»Er hat nur noch Sex im Kopf«, sagt Frau D. Sie hat auf dem Smartphone ihres Sohnes Pornoclips entdeckt. Ihr Sohn ist im Gespräch mit mir darüber ganz unbefangen: »Das haben alle. Da muss man mitmachen. Mit meiner Freundin würde ich so etwas nicht machen. Ich mag sie, wir schmusen, ich spür sie gerne, sonst nichts. Aber wir haben ja Zeit.«

Wir Erwachsenen können den konsumartigen Umgang Jugendlicher mit Pornographie bedenklich finden, jedoch scheint mir das Thema Sexualität hier überschätzt zu werden. Um es etwas pointiert zu formulieren: (Der Konsum von) Pornographie hat für Jugendliche nichts mit (ihrer privaten) Sexualität zu tun. Ich erlebe auch hier ein – vielleicht sogar verfrühtes – Verantwortungsbewusstsein. Ein Beispiel: Ein sechszehnjähriges Pärchen kommt zur Beratung. Re-spektvoll im Umgang miteinander planen sie bereits ihre gemeinsame Zukunft: Sie wollen zwei Kinder, aber wann ist der richtige Zeitpunkt? Nach der Schulzeit, nach der Ausbildung? In den ersten Berufsjahren ist das ja auch schwierig, weil man sich da voll im Betrieb engagieren müsse. Die beiden sind sechzehn, denken aber schon wie Erwachsene. Ich wünsche ihnen mehr Unbefangenheit, mehr Spielraum. Sie haben noch nicht miteinander geschlafen. Ramona nimmt aber die Pille, auf Betreiben ihrer Mutter.

Sehnsucht nach Anerkennung

»Die kiffen doch alle.« Thomas hängt am Wochenende im Stadtpark in der Kifferszene ab. Der ältere Bruder ist in der Schule ein Überflieger, dazu Leistungssportler – ein Vorzeige­sohn. Thomas hatte nie eine Chance, neben ihm zu bestehen. Erst bewunderte er seinen Bruder, suchte seine Anerkennung. Aber der Bruder behandelte ihn von oben herab. In der Kifferszene hat Thomas Freunde gefunden, die ihn achten. Jetzt schwänzt er öfter die Schule. Kürzlich wurde er beim Dealen erwischt. Ein schwarzer Schwan. Thomas wurde ein weißer Schwan, nachdem es gelungen war, das Gespräch zwischen ihm und seinem Bruder in Gang zu bringen. »Jugendliche sind drogengefährdet«, sagt der Vater, der jeden Abend sein »Bierchen« (drei bis vier Flaschen) trinkt. Eine Droge ist immer ein Ersatz. Was der Vater damit ersetzt, ist hier nicht von Belang. Sein Sohn ersetzt mit Cannabis mangelnden schulischen Erfolg oder auch fehlendes elterliches Interesse.

Die Droge ist oft eine Reaktion auf Leistungsdruck, ein Ausweichen. Manchmal ist sie eine Betäubung angesichts eines unerträglichen familiären Schmierentheaters, das die Eltern zu Hause aufführen: Maximilian hat längst mitbekommen, dass seine Eltern sich nichts mehr zu sagen haben. Er weiß, dass sein Vater eine Freundin hat. Bei Geburtstagen, an Weihnachten, bei Familienfeiern wird aber »heile Familie« gespielt, ein schlechtes Stück. In der Kifferszene findet er Ehrlichkeit, da verstellt sich keiner.

Die sozialen Medien sind real

»Unsere Marie-Claire lebt nur noch in der Scheinwelt des Internets.« Die Generation Facebook sieht das anders: Das Wichtigste am Internet, zumal für Mädchen, ist die Pflege der sozialen Gemeinschaft. Sie ist nicht eine Scheinwelt, sondern Teil der realen Welt. Beziehungen sind manchmal wichtiger als Schularbeiten. Wenn Marie-Claires Freundin von ihrem Freund sitzen gelassen wurde, dann muss sie unterstützt werden über immer neue SMS, das Ereignis muss auf Facebook diskutiert, über Twitter kommentiert werden. Das ist soziales Leben, nicht dessen Ersatz. Es gibt Sicherheit, dass das Private, jedenfalls innerhalb der Community, öffentlich ist.

Wieso Scheinwelt? Für Jugendliche kann der Taubenzüchterverein, dem Onkel Heinz sich mit Inbrunst widmet, eine realitätsflüchtige Scheinwelt sein, oder die endlosen Sitzungen, die der Vater als Verwaltungsbeamter täglich zu absolvieren hat. Natürlich gibt es auch hier die schwarzen Schwäne. Es kann einer versinken im Internet, weil er in der sonstigen Welt nicht zurechtkommt, Misserfolge hat, gemobbt wurde. Er braucht dann wahrscheinlich fachliche Hilfe, um da wieder heraus zu kommen.

Jugendliche sind keine Problemgruppe

Die Liste von Pauschalurteilen über Jugendliche kann man fast endlos fortsetzen. Sie haben alle einen negativen, zumindest besorgten Grundton. Sie treffen auf den Einzelfall selten zu, und wenn, dann hat das Gründe. Pubertierende und Jugendliche sind nicht an sich eine Problemgruppe. Sie können nicht mit Allgemeinplätzen charakterisiert werden. Sie sind manchmal anstrengend und manchmal nicht verständlich, jedenfalls nicht auf Anhieb. Hier hilft nur das Gespräch. Dieses beginnt aber mit dem Zuhören und lebt von ihm – nicht vom Austausch, Verkünden von Vorurteilen oder Verdächtigungen durch die Eltern.

Der Unterschied zwischen Schwänen und Jugendlichen besteht darin, dass ein Schwan entweder immer weiß ist (die meisten) oder immer schwarz (einige wenige), Jugendliche hingegen können heute weiß, morgen schwarz und übermorgen wieder weiß sein, manchmal sogar grau. Jeder ist anders, besonders Jugendliche.

Zum Autor: Mathias Wais ist Mitarbeiter des Dortmunder Zentrums »Beratungsstelle für Kinder, Jugendliche und Erwachsene«, ausgedehnte Vortrags- und Seminartätigkeit. Er ist Autor zahlreicher Sachbücher.