Schwellenerlebnisse. Neue pädagogische Erfahrungen in der Oberstufe

Dietmar Kasper

Die innere Schwelle macht sich dadurch bemerkbar, dass der Lehrer in einer bestimmten Unterrichtssituation darauf aufmerksam werden kann, dass seine Schüler durch den Frontalunterricht nicht mehr ausreichend zu begeistern sind und die Eigenaktivität erlahmt. Dabei überwindet der Lehrer eine Schwelle, wenn er beginnt, von seinem eigenen Selbst abzusehen und auf die Bedürfnisse der Schüler einzugehen.

Die äußere Schwelle zeigt sich besonders bei der Analyse der Ergebnisse: Nach dem Wechsel zu einem vermehrt an den Schülern orientierten Unterricht wurde nahezu mit Händen greifbar, dass eine Bewertung durch Noten ihre Entwicklung hemmt. Der scheinbar objektive Maßstab, der ihre Individualität nicht berücksichtigt, zwingt sie dazu, sich in Konkurrenz zu ihren Mitschülern zu sehen und vor allem ihr Eigeninteresse – gute Noten – zu verfolgen. Denn von letzteren hängen die Berufsaussichten ab.

So ist es auch nicht verwunderlich, dass Schüler und Lehrer nach dieser neuen Unterrichtserfahrung, wenn sie nicht gleichzeitig an widersprüchlichen Systemen festhalten wollen, am liebsten auf eine Bewertung von Schülerleistungen durch Noten oder Punktesysteme verzichten würden. Hier bahnt sich ein Paradigmenwechsel im Bewertungssystem an.

Initiative weckender Unterricht

Die heutige Entwicklungssituation der Oberstufenschüler erfordert, dass Schüler und Lehrer anders motiviert werden. Seit einigen Jahren ging ich mit diesen Fragen der Erneuerung um und fand zunächst nicht den Zugang zu diesen Forderungen, die mir aber irgendwie berechtigt erschienen.

Mit leichten Zweifeln ging ich ans Werk und begann vorsichtig, in der Epoche der 10. Klasse über die Höheren Rechenarten und im Fachunterricht der 11. Klasse zur Analysis mit dieser »Initiativarbeitsform«.

Die Ergebnisse waren überraschend und seltsam. In der 10. Klasse engagierten sich die Schüler enorm. Sie bildeten drei Gruppen und erarbeiteten sich die Logarithmen, das Radizieren und das Potenzieren in eigenständiger, fröhlicher Unterrichtsstimmung. Es kamen öfter Schüler auf mich zu, die bestimmte Besonderheiten gefunden hatten, die auch ich nicht kannte, sodass ich ebenfalls etwas lernte. Die dreiwöchige Epoche war von den Biografien der Mathematiker, von ausführlichem Rechenregelwerk der Rechenarten der einzelnen Gruppen und von schönen Vorträgen jedes Schülers vor der Klasse gekennzeichnet.

Interessant dabei war, wie gut die Schüler im Klassenverband sich und ihr Lernverhalten kennen und wie sie dadurch dem Einzelnen auf seine Art den Stoff beibringen können, besonders bei schwachen Schülern

Das Ergebnis des abschließenden schriftlichen Tests war dann auch für mich überraschend. Die Punktewertung ergab folgendes Bild: Die im Fach Mathematik schwächeren Schüler hatten sich gesteigert, viel verstanden und eine für ihre Verhältnisse hohe Punktezahl erreicht. Es war niemand dabei, der nach unten eingebrochen war (Note 5 oder schlechter), was sonst in dieser Epoche üblich war.

Die Mathematikkönner waren allesamt etwas abgefallen. Nicht dass sie schlecht waren, aber sie hatten sonst doch meist die volle oder nahezu die volle Punktezahl erreicht. Diesmal war kein Schüler im Bereich der Note 1.

Die Begründung für diesen Sachverhalt: Die in Mathematik starken Schüler hatten den Schwachen in ihrer Gruppe zu einem deutlich besseren Verständnis der zu vermittelnden Inhalte verholfen, konnten dabei anscheinend ihre eigene Perfektion nicht erreichen oder gaben sich mit weniger zufrieden.

Eine soziale Tat oder eine Beobachtung, die dazu führen würde, den Portfoliounterricht in den Abschlussklassen nicht durchzuführen, weil die guten Schüler etwas nachlassen? Hier kommt wieder die Frage nach dem Sinn der Benotung für die Abschlüsse auf.

Das Erlebnis, dass die Eigenaktivität der Schüler angeregt wird und diese auch im Rahmen des vorgegebenen Themas zu konkreten, erfreulichen Ergebnissen führt, zeigt das Potenzial, das in dieser Art des Unterrichts liegt. Die Besonderheit, dass gerade im Mathematikunterricht der Schüler sich selbst in die Hand nimmt und eigene Motive zum Arbeiten findet, halte ich für zukunftsweisend.

Wie war die Epoche in der 10. Klasse aufgebaut?

Zunächst wurde mit einem Überblick über die bisher erlernten Rechenarten und mit der Hinführung zu den Höheren Rechenarten begonnen. Anschließend bildeten wir drei Gruppen, eine zum Potenzieren, eine zum Radizieren und eine zum Logarithmieren. Der Arbeitsauftrag für jede Gruppe war folgendermaßen gegliedert:

a) Die Schüler erarbeiten das Thema, bei Bedarf auch mit Unterstützung des Lehrers, als Einleitung zur späteren Präsentation. Hier wird der theoretische Begriff des Gruppenthemas gesucht.

Als Beispiel mag das Radizieren dienen: »Radizieren bedeutet in der Mathematik das Wurzelziehen, insbesondere nicht nur die Quadratwurzel, sondern auch die höheren Wurzeln (2., 3. ... n-te Wurzel aus x). Beim Radizieren fragt man nach der Zahl, die n-mal mit sich selbst multipliziert den Radikanten ergibt.«

b) Darstellung der Entwicklungsgeschichte des Themas innerhalb der Mathematik mit Biografien der Entdecker.

c) Aufstellen der Rechenregeln mit Beispielen.

d) Übungsaufgaben innerhalb der Gruppe und Übungen für die Schüler der anderen Gruppen erarbeiten.

e) Sammeln der Arbeitsblätter in einer Mappe oder Eintrag in das Epochenheft mit der Vorgabe, dass Heft oder Mappe am Ende der Epoche abgegeben und beurteilt werden.

Erlaubt waren grundsätzlich alle Unterlagen wie Bücher, Arbeitsvorlagen und auch alle Fachseiten im Internet. Einige Mathematikbücher hatte ich aus der Lehrerbibliothek ausgesucht und mitgebracht.

Vorgehensweise:

1. Jede Gruppe sucht, sammelt und stellt möglichst umfassende Informationen über das Thema nach obiger Vorgabe zusammen.

2. Jede Gruppe sorgt dafür, dass alle Gruppenmitglieder die Inhalte des eigenen Themas verstanden haben.

3. Jede Gruppe stellt ihr Thema an der Tafel vor (Präsentation), sodass die anderen Gruppen ihr Epochenheft führen können und die Inhalte zunächst verstehen und anschließend selbstständig an verschiedenen Aufgabenstellungen anwenden können.

Das Epochenheft umfasst alle drei Themen und besteht nicht aus Kopien, sondern ist handschriftlich verfasst.

Das Beispiel dieser Epoche hat gezeigt, dass die Schüler bei dieser Art des Unterrichtens intensiv einsteigen. Falls es für die Abschlüsse notwendig sein sollte, benotet der Lehrer die Leistungen.

Zum Autor: Dietmar Kasper ist Oberstufenlehrer für Mathematik und Physik an der Rudolf Steiner Schule Mittelrhein.