Schwellenhüter. Ärzte zwischen Geburt und Tod

Erziehungskunst | Herr Madeleyn, bei Geburt und Tod gibt es nicht nur den physischen Aspekt, Geburts- und Todesprozesse durchdringen unser ganzes Leben. Sie haben als Kinderarzt in der Filderklinik täglich damit zu tun. Hat das anthroposophische Menschenbild ihren Umgang mit Geburt und Tod verändert? 

René Madeleyn | Wesentlich ist das Alter des Menschen, der vom Tod betroffen ist. Ein alter Mensch blickt auf ein langes und erfülltes Leben zurück, ein Neugeborenes nicht. Deshalb ist es schwer, einen Sinn im Tod eines Kindes zu finden. Ein erwachsener Mensch kann selbst darüber bestimmen, ob er unter allen Umständen ins Leben zurückgeholt wird. Das kann ein kleines Kind nicht. Die Frage ist also, was tritt an die Stelle eines erfüllten Lebens? Konkret heißt das: Wie geht ein Arzt mit einem mehrfach schwer behinderten Neugeborenen um? Sind lebensverlängernde Maßnahmen im Sinne dieses Kindes? Welche Kommunikationsebenen müssen wir finden, um diese Frage beantworten zu können? Aus anthroposophischer Sicht heißt das, dass der Mensch aus einer vorgeburtlichen Vergangenheit kommt und in eine nachtodliche Zukunft geht. Will diese geistige Individualität in ihrer jetzigen Inkarnation das Leben nur kurz streifen oder zeigt sie einen Lebenswillen, der ihr ein langes Leben ermöglichen will – trotz ihrer schwerwiegenden Erkrankung oder Missbildung, die unter Umständen sehr aufwendige lebenserhaltende und pflegerische Maßnahmen erfordern wird?

EK | Haben Sie konkrete Beispiele?

RM | Ich betreue seit über zwanzig Jahren eine Patientin mit einer schweren Hirnfehlbildung. Schon bei ihrer Geburt stellte der Arzt sich die Frage, ob es richtig gewesen war, das Neugeborene zu reanimieren. Zu ihrer Blindheit, Spastik und Epilepsie kam später eine Leukämie hinzu, und auch da fragte man sich, ob eine Chemotherapie sinnvoll ist. Wir entschieden uns, im Gegensatz zu den Kollegen in anderen Krankenhäusern, die aus ethischen Gründen eine Chemotherapie ablehnten, was allerdings den baldigen Tod der Patientin bedeutet hätte, für eine leichte Chemotherapie, und die Patientin überlebte. Der Lebenswille dieser Frau war enorm. Obwohl sie in ihrem Leben kaum Entwicklungsschritte machte, wurde sie von ihren Eltern liebevoll gepflegt und respektiert. Auch sie wollten die Behandlung, denn sie waren tief davon überzeugt, dass einem behinderten Menschen genau die gleiche medizinische Therapie zuteil werden soll, wie einem gesunden. Diese Lebensgeschichte zeigt, dass es damals richtig war, das Kind zu reanimieren.

EK | Woran erkennt man den Lebenswillen eines Kindes?

RM | Das erkennt man sofort, die Kinder kämpfen für ihr Leben. Das sieht man an ihrer Atmung, an ihren Gesten und an ihrem Gesicht. Es gibt natürlich auch unbemerkte Kämpfe, zum Beispiel beim sogenannten Kindstod.

EK | Haben Sie sich auch schon anders entschieden und das Kind wieder gehen lassen?

RM | Ja, dafür habe ich zwei Beispiele. Bei einem zwergwüchsigen Neugeborenen mit schweren Missbildungen war es schnell deutlich, dass es sein Leben lang künstlich beatmet werden musste. Die Mutter war selbst Krankenschwester und übernahm die intensive Pflege zu Hause, bis das Kind starb. In einem anderen Fall entschied sich die Mutter gegen eine künstliche Beatmung und das Kind starb kurz nach der Geburt in ihren Armen. Beide Entscheidungen waren richtig.

EK | Wer hat da entschieden?

RM | Rudolf Steiner sagte einmal: Eine Gemeinschaft reagiert wie ein Eingeweihter. Das heißt, es gibt eine Art Gemeinschaftsgeist, der ein richtiges Urteil fällen kann. Also gehören nicht nur die Ärzte dazu, sondern auch die Eltern, ja, das gesamte soziale Umfeld. Schwierig wird es, wenn die Eltern verschiedene Ansichten vertreten oder die Ärzte und Therapeuten. Im Allgemeinen geht allerdings der Elternwille vor. Eine ähnliche Fragestellung ergibt sich ja bei der Abtreibung. Wer entscheidet, was »lebensunwertes« Leben ist? Auch wenn die Indikation richtig ist, die ethischen Fragen sind dadurch noch nicht beantwortet. Und schon gar nicht die Frage, ob man dadurch ein Kind daran hindert, mit einer Behinderung geboren zu werden. Andererseits: Ist es ethisch vertretbar, ein Frühgeborenes unter 500 Gramm ins Leben zu zwingen, obwohl man weiß, es wird schwerbehindert sein? Wiederum gibt es Fälle, in denen Kinder mit diesem Geburtsgewicht trotz der hohen Behinderungsrate sich völlig normal entwickelt haben.

EK | Heißt das, dass Sie auch falsch entscheiden können?

RM | Ja, selbstverständlich. Solange wir keine exakte Wahrnehmung davon haben, was dieses Kind mit seinem Leben vorhat. Wir können uns als Ärzte zusammen mit den Eltern dieser Wahrnehmung nur über unsere Empfindungen und Gefühle annähern.

EK | Wird das anthroposophische Menschenbild in solchen Situationen von den betroffenen Eltern als hilfreich erlebt?

RM | In der Regel können wir davon ausgehen, dass Eltern, die die Filderklinik aufsuchen, keine Schwierigkeiten damit haben, dass wir davon ausgehen, dass ein behindertes Kind ein genauso lebenswertes Leben führen kann wie ein gesundes, dass der Mensch geistig-seelisch im Prinzip immer gesund ist, aber den Leib als Instrument nicht richtig ergreifen kann. Viele betroffene Eltern können diesem Gedanken folgen, auch wenn sie gar keine Anthroposophen sind, weil sie in ihrem behinderten Kind auch etwas sehen, das gesund und normal ist. Diese Ansicht verfestigt sich mit zunehmendem Alter der Kinder. Es gibt aber auch Eltern, die es von vornherein ablehnen, mit einem behinderten Kind zusammenzuleben. Der Wille des werdenden Kindes ist gegenüber der eigenen Lebensgestaltung sekundär. Eine Frau zum Beispiel, die ein Kind mit schwerem Herzfehler geboren hatte, weigerte sich, ihr Kind anzunehmen. Es starb in den Armen der Krankenschwester.

EK | Haben Sie auch erlebt, dass Eltern eines todgeweihten oder schwer behinderten Kindes in dieser Grenzsituation ihre Ablehnung überwunden haben?

RM | Ja, oft tritt sogar der Fall ein, dass solche Kinder von ihren Eltern mehr geliebt werden als die gesunden. Diese »Wandlung« unterstützen wir. Denn wir gehen davon aus, dass der Kampf eines gesunden Geistes und einer gesunden Seele mit ihrem kranken Körper in einer nächsten Inkarnation positiv zum Tragen kommt, wenn er ausgetragen wird.

EK | Wie versuchen Sie, den Eltern die Angst vor dem Tod zu nehmen?

RM | Steiner sagte einmal in einem Medizinerkurs, dass Ärzte sich verbieten müssten, vor dem Tod an den Tod zu denken, dass sie vielmehr alles dafür tun müssten, Leben zu erhalten. Wenn man berücksichtigt, dass Steiner damals noch nicht die Möglichkeiten der heutigen Intensivmedizin kannte, bleibt es uns heute nicht erspart, in bestimmten Situationen über den Tod zu sprechen. Das erfordert sehr viel Taktgefühl für den richtigen Moment. Wenn man das zu früh oder an der falschen Stelle macht, fühlen sich die Eltern im Stich gelassen und verraten, und denken, der Arzt gibt zu einem Zeitpunkt auf, an dem Eltern verständlicherweise nicht aufgeben wollen. Dieses Gefühl darf auf keinen Fall aufkommen. Der Arzt muss die Sicherheit vermitteln, dass er alles tut, was möglich ist, um Leben zu erhalten, dass er aber auch den möglichen Tod nicht ausschließt und dies auch kommuniziert. Er muss über das sprechen, was für die Lebenden als schlimmstes und schrecklichstes Ereignis erscheint, und die Ängste dadurch abmildern, dass er zum Beispiel über die nachtodlichen Erfahrungen reanimierter Menschen spricht, die dieses Ereignis als schön und lichtvoll beschreiben. Steiner sprach davon, dass von der »anderen« Seite aus gesehen der Tod ein wunderbares Geburtsereignis ist. Diese Versöhnung mit dem Tod versuchen wir mit den betroffenen Eltern zu leisten, ohne den Tod glorifizieren zu wollen. Hier liegt die Nahtstelle zur Palliativmedizin und Hospizbewegung. Trotzdem haben wir immer wieder das Wunder erlebt, dass ein Kind aufgegeben wurde und überlebte. Aber auch umgekehrt gibt es Fälle, in denen ein Kind unerwartet stirbt.

EK | Haben Sie Beobachtungen gemacht, wann es zu solchen dramatischen Wendepunkten kommt?

RM | Lebt ein Kind wider Erwarten weiter, ist es wie eine Art Wiedergeburt. Aber auch im umgekehrten Fall haben wir beobachten können, dass ein verstorbenes Kind wie unsichtbar die Familie weiter begleitet und wichtige soziale Impulse setzt. Diese Wendepunkte lösen oft unerwartete neue Entwicklungen aus: Es werden zum Beispiel Menschen dadurch zusammengeführt, die sonst nie miteinander zu tun gehabt hätten. Bei einem Kind mit Gehirntumor, dessen Eltern Alkoholiker waren und in desolaten Verhältnissen lebten, löste die Krankheit aus, dass sie eine Entziehungskur machten, ihre Ernährung umstellten und sich spirituell öffneten. Oder wir haben Eltern erlebt, die in Trennung lebten, sich wieder gefunden haben, das heißt, wie das Kind die Eltern erneut zusammengeschweißt hat, aber auch, wie Eltern sich danach trennten, weil nur das Kind die Beziehung zusammenhielt. Aber es ist auch zu beobachten, wie ein Kind, das gestorben ist, seine soziale Umgebung beleben kann, als würden auf geheimem Wege die Kräfte des jungen Lebens auf anderen Ebenen weiterwirken. Das ist allerdings ein sehr spiritueller Gesichtspunkt.

Am Eindrücklichsten erlebt man jedoch »das Wunder des Lebens« dann, wenn vom medizinischen Gesichtspunkt aus nichts mehr getan werden kann, um ein Leben zu retten, und das Kind überlebt und entwickelt sich gesund. Das ist wie ein Geschenk. Doch auch umgekehrt gibt es Fälle, wo das Kind durch den medizinischen Eingriff kränker wird, als es vorher war. Auch das muss verantwortet werden.

EK | Hat sich im allgemeinen der Umgang mit dem Tod bei Kindern verändert?

RM | Ja, wir beobachten zum Beispiel, wie Eltern nicht mit dem Tod ihres Kindes hadern, ihn akzeptieren und das Leben des Kindes als erfüllt betrachten. Das geht soweit, dass die betroffenen Eltern nach dem Tod ihres Kindes wieder zu uns in die Klinik kommen und den Kontakt halten. Oft kommen nach dem Tod eines Kindes, obwohl ungeplant, weitere Kinder. Manchmal hat man den Eindruck, dass mit dem neuen Kind das verstorbene sich neu inkarnieren möchte.

EK | Was ist die »Botschaft« von Kindern, die mit dem Leben oder Tod ringen?

RM | Diese Kinder bahnen uns den Weg zu einem verstärkten Erleben des Übersinnlichen, zum Geistig-Seelischen des Menschen. Das kann man daran festmachen, dass man als Arzt oder Eltern merkt, dass man einen Weg geht, der im Sinne dieses Kindes liegt. Es spiegelt uns durch sein Verhalten, ob wir das Richtige tun. Man kann vielleicht sogar sagen: Begegnen wir dem Kind mit einer spirituellen Haltung, kann es sich seinem spirituellen Wesen nach entwickeln. Wir unterschätzen aber auch oft, wie eine gesunde Bindung des Kindes zu seinen Eltern, überhaupt zu seiner gesamten sozialen Umgebung, positiv die Gesundheit bis hin zur Organentwicklung beeinflusst. Bindung im Sinne von »religio« bekommt dadurch ebenfalls eine spirituelle Dimension. Bisher kranken alle Bindungstheorien daran, dass dieser Aspekt vernachlässigt wird. Konkret heißt das, dass über dem Schicksal des Kindes etwas waltet, das größer ist als wir, man kann es durchaus »göttlich« nennen. Dass bei einer lebensgefährlichen Erkrankung, egal wie sie ausgeht, Schicksalsvertrauen entstehen kann, ist unsere ärztliche Aufgabe. Diesen Aspekt kennt eine materialistische Medizin natürlich nicht.

Die Fragen stellte Mathias Maurer.