Der Zeitpunkt könnte besser nicht gewählt sein. Leben wir doch inmitten eines exzessiven Konsumrausches, der längst den Charakter eines Tanzes auf dem Vulkan angenommen hat, in dem sich zugleich Unsicherheit und Angst vor Kriegen, Terroristen, Migranten, der Zukunft ausbreiten. Ein Gefühl des Ausgeliefertseins greift um sich, während wir mit den Folgen unserer Taten im Kolonialismus, der Ausbeutung der Erde und ihrer Bewohner, der Zerstörung der Natur, der Entfesselung des Geldwesens und der Herabwürdigung der Menschen zu einer manipulierbaren Masse konfrontiert werden.
Die (Wieder-)Begegnung mit Beuys ist zutiefst aufrüttelnd, weil sie nichts Historisches, Vergangenes, zeitgebunden Programmatisches hat, sondern auf den Dreh- und Angelpunkt verweist, von dem allein Heilung für das Leiden der Welt ausgehen kann: den Menschen selbst. Während der Film etwas von der bedingungslosen Präsenz erahnen lässt, die jede Begegnung mit Beuys auszeichnete, macht er sichtbar, wie radikal er mit der geistigen Wirklichkeit des Menschen und unserer Verwandtschaft mit der Erde und ihren Naturreichen rechnete: Die Natur ist der ausgebreitete Mensch – im Menschen gelangt sie zum Bewusstsein ihrer selbst. Die ökologische Krise ist eine Bewusstseinskrise des Menschen und die Natur leidet, weil sie viel mehr wahrnimmt als wir. Erst, wenn wir unser Denken zu einem schöpferischen Erkennen des Lebendigen weiterentwickeln, können wir die Krise lösen. Entsprechend arbeitete Beuys als Künstler mit Kräftekonstellationen, an denen sich das bloß abbildende Vorstellen stößt, die sich im aktiven Nachschaffen aber erschließen.
Genauso real wie die Beziehung des Menschen zur Natur war für Beuys die Idee der sozialen Plastik, an der jeder Mensch als einzigartiges, kreatives und fehlerbehaftetes Wesen mitarbeitet und die sich in seinem berühmten Satz ausdrückt: »Jeder Mensch ein Künstler!« Er meinte damit keineswegs, jeder Mensch sei ein Bach oder Picasso, sondern dass jede menschliche Handlung Teil eines Kunstwerkes ist, das die Welt real verändert. Die spirituelle Kraft dieses Satzes ist revolutionär, weil sie die Verantwortung da abgibt, wo sie ihren Ursprung hat: im Menschen selbst, und zwar in jedem, jederzeit und an dem Ort, an dem er handeln kann.
Die Wiederbegegnung mit Beuys ist die mit einem Menschen, der es wagte, Mensch zu sein und die Verantwortung dafür zu übernehmen. »Dieser Spinat-Ökologismus, der interessiert ja nicht. Das einzige, was sich lohnt, aufzurichten, ist die menschliche Seele« sagt er am Ende des Films, nachdem er ganz wunderbar über die Intelligenz der Bäume und deren Beziehung zum Menschen gesprochen hat. Ich kann mir im Augenblick keinen Satz denken, der wichtiger wäre.
Link zum Film: http://tinyurl.com/pv9qcc3
Henning Kullak-Ublick, von 1984 – 2010 Klassenlehrer an der FWS Flensburg; Vorstand im Bund der Freien Waldorfschulen, den Freunden der Erziehungskunst Rudolf Steiners und der Internationalen Konferenz der Waldorfpädagogischen Bewegung – Haager Kreis.