In Bewegung

Der Mensch wird am Du zum Ich

Detlef Ludwig
Foto: @ photocase_17685

Das Thema verbreitert sich: Ein Kollege setzt sich für einen anderen Kontenrahmen für den Schulverein ein. Eine Kollegin stellt die Frage, ob das wirklich sinnvoll ist. Wäre es nicht besser, wenn alle Schulen in der Region denselben Kontenrahmen verwenden würden? Dann könnte man Kennzahlen generieren, durch den Vergleich wirtschaftliche Handlungsfelder für die Schulen erkennen oder gar die Buchhaltungen der Nachbarschulen zusammenführen. So würden dringend notwendige Gelder für die Pädagogik frei. Die Moderatorin erkennt schnell, dass heute kein Ergebnis gefunden wird. Es bildet sich eine agile Gruppe aus Lehrer:innen, die mit der Lösung der Fragen betraut werden.

Die geschilderte Szene ist fiktiv und findet sich vermutlich weder vom Ablauf noch von der Thematik her an einer Schule. Was aber bedeutet Selbstverwaltung? Wo sind die Grenzen, die Bereiche, in denen Lehrer:innen selbstbestimmt wirken wollen, sollten oder können? Welche Rollen haben Eltern bei pädagogischen und schulischen Entscheidungen? Gibt es Grundsätze oder Ideale, nach denen die Zusammenarbeit gestaltet werden kann? Welche Rolle spielt dabei die soziale Dreigliederung?

Der Mensch wird am Du zum Ich

Martin Buber

Gute Gründe für Selbstverwaltung

Rudolf Steiner hat wiederholt darauf hingewiesen, wie wichtig es ist, dass Lehrkräfte ein gutes Verhältnis zu sich und zur Welt haben. Sie sollten es sein, die die Schule führen, nicht eine äußere staatliche Behörde. Aus der Salutogeneseforschung wissen wir, wie wichtig es ist, dass die Umgebungsbedingungen vom Einzelnen als sinnvoll wahrgenommen werden, dass sie verstehbar und beeinflussbar sind. So entsteht Gesundheit und Resilienz.

Kollegiale Selbstorganisation auf Augenhöhe, etwas bewirken können, mit anderen an Lösungen arbeiten sind wichtige Bestandteile gelingender Schulkultur.

Auf der anderen Seite ist es ein hoher Anspruch, die vielfältigen Aspekte einer Schule zu durchdringen, die Rahmenbedingungen zu kennen und fundierte Entscheidungen zu treffen. Die zunehmende Komplexität unseres Lebens, gerade auch im Bereich des Rechts und der staatlichen Verordnungen, führt bei manchen zu einem Gefühl der Überforderung, gepaart mit dem festen Willen, sich um die pädagogischen und sozialen Kernaufgaben, die Schüler:innen und den Unterricht zu kümmern. Das Engagement für das weite Feld der Selbstverwaltung wird durch zu hohe Ansprüche geschwächt, auch dann, wenn an Schulen ein gutes Gleichgewicht zwischen bezahlter Arbeit in der kollegialen Selbstführung und bezahlter pädagogischer Arbeit erreicht ist. Lange Konferenzzeiten, ein Zuviel an komplexen Themen, die nur Energie rauben aber nicht geben, Herausforderungen im sozialen Miteinander, ein Zuviel an Begegnung: fast jede Lehrkraft an einer Waldorfschule kommt im Laufe ihres Berufslebens an den Punkt, an dem das Mitwirken in den Strukturen überdacht und neu geordnet wird. Das ist meist kein einfacher Prozess für die einzelnen Pädagog:innen.

Strukturen neben oder außerhalb der kollegialen Selbstverwaltung

Vielleicht empfinden manche das einleitende Buchhaltungsbeispiel als fern von der Pädagogik. Ist es das wirklich? An der Gröbenzeller Waldorfschule gründet sich seit vielen Jahren und immer wieder mit großem Erfolg eine Schüler:innenfirma. Ohne Kostenrechnung gibt es für dieses (Unterrichts-)Projekt keinen pädagogischen und keinen wirtschaftlichen Erfolg. Unabhängig von der Frage, ob die kollegiale Selbstverwaltung sich auf die Buchhaltung erstrecken sollte, ist feststellbar, dass die kollegiale Selbstorganisation zunehmend mehr Räume offen lässt: es entstehen Strukturen neben oder gar außerhalb des Einflusses der Pädagog:innen. Klassiker der parallelen oder unterstützenden Strukturen sind die schon erwähnte Buchhaltung, die Personalverwaltung, Gehaltsabrechnungen, die Hausmeisterei, die Pflege der Freiflächen, die Gebäudereinigung – und doch sind das alles schulische Bereiche mit pädagogischer Wirksamkeit. Werden Klassenräume von Eltern und Schüler:innen gereinigt, findet eine Verbindung zu den gereinigten Bereichen statt. Ein wacherer und sorgsamerer Umgang damit entsteht. Eltern gewinnen Einblicke in die pädagogische Wirksamkeit von gestalteten Räumen. Gleiches gilt für die Gestaltung der schulischen Außenflächen, hier ist der Bezug zum Gartenbauunterricht evident.

Von Parallelstrukturen, die klassischerweise in der »Verwaltung« angesiedelt sind, verspricht man sich eine Entlastung der Lehrer:innen und eine professionellere Organisation der Aufgabenfelder. Manche Schulen gehen noch weiter und lagern Teile der »Verwaltung« aus. Welche Probleme im Sozialen entstehen können, wenn beispielsweise Fragen zur Gehaltsabrechnung nicht mehr in der Schule geklärt werden, sei hier nur angedeutet.

Die Professionalisierung und Strukturbildung neben der kollegialen Selbstverwaltung findet vermehrt auch in Bereichen statt, die von Lehrerkolleg:innen eher zur pädagogischen Selbstverwaltung gezählt werden. Die Grundfragen sind dieselben: Finden sich Lehrer:innen, die in die betreffenden Bereiche gehen und Expertise erlangen wollen? Was, wenn nicht? Kann man es aushalten, dass wichtige pädagogische Aufgaben außerhalb der Unterrichtsstunde nicht ergriffen werden? Man muss es aushalten! Nur so entsteht ein Leerraum, ein Ausatmen, eine Stille, aus der heraus die Aufgabe neu gegriffen werden kann. Das Aushalten fällt nicht leicht, und es gibt Zeitpunkte, in denen ein Verbleiben in der Antwortlosigkeit nicht mehr möglich ist. Spätestens, wenn Anforderungen von außen kommen, ist eine solche Grenze erreicht. Ein Beispiel hierfür sind Anfragen der Schulaufsicht. Findet sich bis kurz vor Erreichen von Fristen niemand, muss es Menschen und Einrichtungen an einer Schule geben, die handelnd eingreifen.

Wird eine wichtige Aufgabe vom Kollegium über einen  längeren Zeitraum nicht gegriffen, wird manchmal versucht, über bezahlte Ämter Abhilfe zu schaffen. Nach und nach werden so Bereiche aus der kollegialen Selbst­organi­sation – zumindest aus der Konferenzarbeit – heraus­ge­nommen. Beispielhaft hierfür sind Personalfragen. Das kollegiale – manchmal auch freundschaftliche – Verhältnis kann durch schmerzhafte Personalentscheidungen empfindlich gestört werden. Abgesehen von der Gründungsphase werden Personalfragen kaum noch in der Gesamtkonferenz besprochen und entschieden. Die Regel sind Personalgremien mit unterschiedlichen Befugnissen, mit Wahlämtern und der Tendenz, das Amt auf Dauer auszuüben. An manchen Schulen werden Expert:innen als Angestellte oder auf Honorarbasis in diese wichtigen Entscheidungsfragen eingebunden.

Die in fast allen Bereichen notwendige Professionalisierung und die dauerhaften Leerräume, die niemand gerne füllen möchte, lösen im sozialen Organismus Tendenzen aus, die schwierig zu handhaben sind. Es entsteht eine Spannung zwischen den oben geschilderten Idealen (gemeinsames Arbeiten auf Augenhöhe) und den fremdbestimmt wirkenden Entscheidungen, die oft erst im Konfliktfall deutlich wird. Zudem entwickeln sich aus einem Wissensvorsprung Machtstrukturen, die sich verfestigen – sei es im Zeitlauf (Dauer des Verbleibs im Amt) oder weil nur wenige bereit sind, im jeweiligen Bereich Expert:in zu werden. Macht ist für sich genommen nichts Schlechtes. Schwierig wird es, wenn hinter den vertrauensvoll von allen getragenen Machtstrukturen noch andere, stärkere Strukturen wirken. Auch wenn die finanziellen Anreize für die Übernahme von pädagogischen Selbstführungsaufgaben zu groß werden und Anhaftungen entstehen, kann dies ein Beitrag zur schrittweisen Verfestigung einer Struktur werden, die so wahrgenommen wird, als würde sie außerhalb der kollegialen Selbstführung stehen.

Darunter leidet auf Dauer die Bereitschaft der Kolleg:innen, sich engagiert einzubringen – ein Teufelskreis.

Solche Dynamiken im Blick zu haben, genau hinzuschauen, ob die »Nebensysteme« der kollegialen Selbstorganisation dienen oder sie zersetzen, ist eine wichtige Gestaltungsaufgabe, die gegriffen werden muss. Im Idealfall gibt es an der Schule eine Instanz, die darauf achtet, dass die Räume für die pädagogische Selbstver­waltung erhalten bleiben.

Hilfen für die kollegiale Selbstverwaltung – den Raum halten

An allen bayerischen Waldorfschulen gibt es amtlich benannte Schulleiter:innen, Geschäftsführer:innen, Vorstände und Aufsichtsräte. All das sind Ämter, die von Eltern und Lehrer:innen ausgefüllt werden, denen Führung zugesprochen wird. Meist sind es Menschen, die auch führen wollen. Was bedeutet »Führung« im Kontext der Selbstverwaltung? Die wichtigste Führungsaufgabe ist es, einen Rahmen zu schaffen, in dem der soziale Organismus Schule sich gut entfalten kann und in dem die Selbstorganisation des Kollegiums einen wohl ausbalancierten Platz hat. Zur Gestaltung des Rahmens können die Ordnungsprinzipien der Sozialen Dreigliederung herangezogen werden. Wie sie ordnend in den einzelnen Bereichen des Schulorganismus wirken können, kann hier aus Platzgründen nicht weiter ausgeführt werden.

Im Alltag gibt es beständig Rufe nach einer vermeintlich höheren Effizienz, nach besserer Kontrolle, nach Professionalität, nach schnellem Durchgreifen, nach den doch für alle vermeintlich sofort erkennbaren Vorteilen einer klaren Hierarchie, nach leicht durchschaubaren Strukturen. Gesucht wird eine Ansprechperson für alle Fragen, die Schulleitung und das eine Entscheidungsgremium. All das sind Rufe, die die kollegiale Selbstorganisation langfristig gefährden oder deutlich einschränken können.

Hier ein gutes Gefühl für das jeweils richtige Maß zu entwickeln, im Sozialen künstlerisch tätig zu werden und sich schützend vor die Selbstverwaltung zu stellen, ist eine wichtige Qualität von Vorständen, Aufsichtsräten und Geschäftsführer:innen. Es gibt noch weitere Aufgaben für diese Gruppen. Dazu gehören die Repräsentation der Schule nach außen und die Frage, wie Menschen, die neu an die Schule kommen, sie kennenlernen und sich mit ihr verbinden können. In der Managementliteratur wird von »Onboarding-Programmen« gesprochen. Wie können
Eltern und Lehrer:innen, die in den oben genannten Selbstverwaltungsorganen wirken, die Lebendigkeit des Schulorganismus stärken?

Hilfen für die kollegiale Selbstverwaltung – den Schulorganismus lebendig halten

Neugründungen wohnt ein lebendiger Zauber inne. Am Anfang gibt es eine überschaubare Kerngruppe, die gemeinsam ein Ziel erreichen will. Unterschiedlichste Menschen bringen sich und ihre Fähigkeiten ein. Starke Willenskräfte sind spürbar. Alle wirken in allen Bereichen mit: Finanzen, Öffentlichkeitsarbeit, Lehrer:innensuche, Grundstücksfragen. Mit der Zeit bilden sich Untergruppen mit speziellen Aufgaben. Noch wissen alle von den anderen. Es herrscht großes Vertrauen. Der soziale Organismus wächst, differenziert sich aus. Die einzelnen Arbeitsfelder wirken aufeinander, durchdringen sich und der Zusammenschluss der Handelnden wirkt mit zunehmender Intensität auf das Umfeld. Auch das Ziel wird differenzierter, konkreter. Noch gibt es keine Schule und doch verlassen in dieser Phase die ersten die Kerngruppe. Neue kommen hinzu.

Wie können Vorstände, Aufsichtsräte und die Gremien der kollegialen Selbstverwaltung die Impulse aus der Gründungsphase lebendig halten und immer wieder neu den Zeiterfordernissen anpassen? In regelmäßigen Abständen braucht es eine Selbstvergewisserung. Was sind unsere Ziele, wofür stehen wir? Die Arbeit an einer Schulbroschüre, das Überdenken der Stundentafel, ein Blick auf das Unterrichtsgeschehen: Was ist noch lebendig? Wofür fehlt die Kraft? Manchmal braucht es dafür externes Coaching, um einen Visionsprozess einzuleiten und gemeinsame Meilensteine zu finden. Oft geht es auch ohne.

Je größer und ausdifferenzierter ein Schulorganismus ist, desto weniger können alle alles durchschauen. Umso wichtiger ist die Entwicklung und das Halten einer Kultur des Vertrauens. Vertrauen entsteht durch Begegnung, durch das Schaffen von Räumen, in denen sich die Schulgemeinschaft erleben kann. Räume, in denen in aller Unterschiedlichkeit das Wirken am gemeinsamen Projekt zu spüren ist. Märkte, gemeinsame Feste und Monatsfeiern sind Beispiele hierfür.

An manchen Schulen gibt es Satzungsstrukturen, die das ermöglichen sollen: Schulforen, Eltern-Lehrer:innen-Gruppen, die über die Klasse hinausgehen. Die Pandemie stellt uns durch die Einschränkung des realen Begegnungsraumes vor eine neue und doch alte Aufgabe: die interne und durch Medien vermittelte Kommunikation so zu gestalten, dass sie vertrauensbildend und gemeinschaftsfördernd wirkt.

Und schließlich ist das Gestalten einer von Herzen kommenden Kultur des Willkommens ein wichtiges Feld mit vielen Aufgaben und Teilbereichen. Ein alltäglicher und zentraler Begegnungsort ist das Schulsekretariat. Hier kommt vieles zusammen: Administratives, kleine und große Hilfeanfragen. Oft findet hier die erste, manchmal die letzte Begegnung mit der Schule statt. Entsprechend wichtig und vertrauensbildend ist es, wenn wir hier freundlich, menschlich und von Herzen empfangen werden. Eine warme Willkommens- und Abschiedskultur schafft den Boden, um sich mit der Schule zu verbinden und im Schulorganismus zu wirken. Schule lebendig halten, Ein- und Ausatemprozesse gestalten und aus­halten, sich im Geistigen verbinden, gemeinsam an der Pädagogik arbeiten, Strukturen reflektieren und neu setzen – eine agile Selbstverwaltung schafft das.

Detlef Ludwig, *1965, Studium der Volkswirtschaftslehre und Personalwirtschaft, Erfahrungen in Politik und Bildungseinrichtungen, seit 22 Jahren Geschäftsführer des Waldorfschulvereins Gröbenzell, von 2011 bis 2018 Vorstand der LAG Bayern. detlef.ludwig@waldorfschule-groebenzell.de

Kommentare

Es sind noch keine Kommentare vorhanden.