In Bewegung

Selbstverwaltung braucht Selbst-Verwaltung

Friederike Gläsener

Die Vorstellung, gemeinsam und frei von direktoralen Vorgaben an der Gestaltung der Schule zu arbeiten, um Richtiges und Wichtiges zu ringen und in einem kollegialen Prozess den bestmöglichen Weg für die eigene Schule zu finden: das erschien mir als wunderbare Chance, als eine großartige Möglichkeit die unterschiedlichen Fähigkeiten und Erfahrungen zusammenfließen zu lassen, voneinander zu lernen, sich gegenseitig zu ergänzen und gemeinsam ein Stück weiterzukommen.

Vor meinem inneren Auge jedoch tauchte sogleich wie ein Gegenbild eine erschöpfte Runde von Kolleg:innen auf, die in einer Abstimmung ohne jede Begeisterung die Hand hoben, um endlich eine Entscheidung herbeizuführen, zu einem der zahlreichen Themen, die entschieden werden mussten. Manches war immer wieder diskutiert worden, ohne dass man weiterkam, und man hatte sich viele Male im Kreis gedreht. Anderes wurde abgestimmt, ohne dass die einzelnen Lehrer:innen überhaupt entsprechend eingearbeitet waren, denn man kann schließlich nicht in jedes Thema tiefer einsteigen. Welche Konsequenzen die jeweilige Entscheidung im Einzelnen hat? Wird sich zeigen. Solche Erfahrungen kennen vermutlich, bis zu einem gewissen Maß, alle.

So wunderte mich letztlich auch nicht das Folgende: Bei einer großen Versammlung von Waldorflehrer:innen wurde ein Stimmungsbild abgefragt, wer mit der Selbstverwaltung an der eigenen Schule zufrieden sei. Der große Saal der Schule war fast gefüllt, die Hände, die sich bejahend hoben, hätte man an den Fingern einer Hand abzählen können.

Hat sich die Selbstverwaltung überlebt?

Was ist los mit unserer Selbstverwaltung? Hat sie sich überlebt? Sind wir damit überfordert? Ich begann genauer nachzufragen und Gespräche zu suchen, um herauszufinden, wo die Unzufriedenheiten lagen. Zutage trat ein Strauß weithin bekannter Probleme von Kompetenzge­rangel, Cliquenbildung, fehlendem Willen zur Verantwortung, unklaren Strukturen und Entscheidungen, die nicht umgesetzt werden, Unverbindlichkeit, Druck, Erschöpfung, Rückzug aus der Kollegiumsarbeit und vieles mehr. Nur um Missverständnissen vorzubeugen, sei hier auch erwähnt: Selbstverständlich gibt es viele Kolleg:innen, die mit hohem Arbeitsaufwand, Engagement und Know-how eine sehr gute Arbeit leisten. Aber weshalb bewerten dennoch so viele Kolleg:innen die Probleme als schwerwiegend und entmutigend? Wissen wir die Selbstverwaltung nicht richtig umzusetzen? Brauchen wir doch eine Schulleitung?

Die Idee der gemeinsamen Verantwortlichkeit und Gestaltung begrüßen viele Kolleg:innen nach wie vor. Aber nicht so, wie es gerade läuft. Was sind die Voraussetzungen einer gesunden und gut funktionierenden Selbstverwaltung? Habe ich beispielsweise als Mitglied der Schulleitung auch gleich die Kompetenzen, die eine solche Mitarbeit braucht? Was befähigt uns dazu? Was müssen wir lernen?

Ich möchte hier auf einen Aspekt näher eingehen, weil er mir grundlegend erscheint. Selbstverwaltung heißt, dass ich zunächst anfange, mich selbst zu verwalten. Bin ich »Frau im Haus«? Fragen ich mich aufrichtig, ob ich Frau bin über meine Gefühle, ob ich das fühlen kann, was ich will, ob ich einen Gedankeninhalt denken kann, ohne abzuschweifen, ob ich meine Vorhaben auch in Taten umsetze? Ich muss mich als Verantwortungs­träger:in beispielsweise ganz konkret fragen: »Wie sehr bin ich in der Lage meine eigenen Emotionen zu reflektieren und von ihnen abzusehen? Leite ich mich selbst oder werde ich von meinen Sympathien und Antipathien geleitet? Wie stark bin ich verbunden mit den Quellen der Waldorfpädagogik? Setze ich meine eigenen Grundsätze und Ideale wirklich um? Tue ich, was ich sage? Und wie übe ich das?«

Ein Beispiel: Sitze ich in der Schulleitung und trage bei einer Entscheidung über einen Kolleg:innen meine persönlichen Sympathien mit hinein, gebe mich großzügig und wohlwollend und drücke gern mal ein Auge zu, wenn ich jemanden mag? Und lasse ich andererseits bei bei ungeliebten Kolleg:innen alle Aspekte in dem Licht meines eigenen Ärgers oder Vorurteils erscheinen, messe mit zweierlei Maß, nehme negative Behauptungen für Tatsachen und trete für strenge, klare Konsequenzen ein? Schon die Färbung des Vorgangs durch meine eigene Gefühlslage macht den ganzen Entscheidungsvorgang fragwürdig. Und noch fragwürdiger macht ihn die Tatsache, wenn dann noch versichert wird, dass man selbstverständlich ganz sauber trenne und Antipathien und Sympathien keine Rolle spielen würden, ohne dass diese Frage besondere Beachtung fände.

Wenn wir das als Ziel anstreben, ist das ein hohes Gut. Aber wie gelangen wir zu diesem Ziel, wirklich das »Persönliche« draußen zu lassen? Bleiben wir ehrlich: das geschieht nicht von selbst, indem ich mich ein bisschen darum bemühe.

Wunden in der Schulgemeinschaft vermeiden

Auch mit den Schüler:innen stehen wir ja vor der Herausforderung, nicht persönliche Sympathien und Antipathien walten zu lassen. Die Schüler:innen sind äußerst feinfühlig. Rudolf Steiner drückte das einmal so aus, »dass wir unseren engeren persönlichen Menschen wie eine Schlangenhaut rasch abstreifen, wenn wir in die Klasse hineingehen« oder dass wir das »persönliche Mäntelchen« an der Garderobe ablegen müssten, um in eine neue Seelenverfassung zu kommen. Und das gilt auch im Rahmen der Selbstverwaltung, wenn wir Beschlüsse fassen, die einzelne Kolleg:innen oder gar das Schulganze betreffen. Eine Seelenverfassung, die uns erlaubt, jenseits unserer eigenen Vorlieben und Befindlichkeiten einen Menschen zu verstehen, eine Situation zu betrachten, ein Geschehen zu beurteilen. Sonst ergehen Urteile, oft unbemerkt von uns selbst, persönlich und subjektiv gefärbt.
Das aber schlägt Wunden in einer Schulgemeinschaft und erzeugt Meinungscliquen. Und damit entstehen schon Risse in dem Ganzen, die nicht unbedingt gleich bemerkbar sind. Aber es ist hier wie mit den Weichen: erst ist die Abweichung klein und erscheint unbedeutend, aber schließlich wird der Abstand zum Ideal immer größer statt kleiner und dann wundern wir uns möglicherweise darüber, warum so viele Kolleg:innen erschöpft sind oder der Zusammenhalt immer weniger spürbar ist. Ein echtes Heilmittel für den einzelnen Menschen und für eine Gemeinschaft sind die von Rudolf Steiner beschriebenen bekannten Seelenübungen, die Kontrolle der Gedanken, des Willens, der Gefühle. Und dafür braucht es nicht einmal viel Zeit, nur Ehrlichkeit sich selbst gegenüber, Durchhaltevermögen und den guten Willen, etwas zu lernen. Ein Kollegium, das aus übenden Individualitäten besteht, öffnet Schleusen für helfende seelisch-geistige Kräfte. Es erreicht wesentlich schneller und besser Einigkeit und tragfähige Entscheidungen. Mit solchen Übungen haben wir einen vielleicht unbedeutend und klein aussehenden Schlüssel in der Hand, der aber die Tore zur geistigen Welt öffnet.

Der lebendige Geist ermöglicht die Verbindung mit den Menschen

Denn was ist es, das uns wieder eint? Oder besser: Wer ist es? Wir finden es deutlich ausgeführt unter anderem in Rudolf Steiners Philosophie der Freiheit: Der lebendige Geist! Die Beschäftigung mit dem Über-Persönlichen erlöst uns aus dem Gefangensein in negativen seelischen Formen und kann uns in schönster Weise mit Menschen verbinden, die wir zunächst gar nicht so mögen oder verstehen. Und schenkt uns überdies stets neue Kräfte, neuen Mut, Ideenreichtum für unsere Aufgabe.

Und damit kommen wir auf einen zentralen Punkt, der eigentlich bekannt ist, aber wenig beachtet wird. Die Grundlage, auf eine Schulleitung an der Waldorfschule zu verzichten, war nicht die, dass alle für sich einfach überall mitredet, Meinungen wuchern und schließlich in einer demokratischen Abstimmung, die das Individuum zu einer Zahl macht, das Heil gesucht wird. Nein, es sollte ganz konkret ein Ersatz da sein für das, was sonst eine Schulleitung leistet: die vertiefte und ernsthafte Arbeit an geistigen Inhalten, insbesondere an der Menschenkunde. Wir finden das in einer Ansprache Rudolf Steiners (vom 20.8.1919 in »Zur Vertiefung der Waldorfpädagogik«) folgendermaßen ausgedrückt: »In einer wirklichen Lehrerrepublik werden wir nicht hinter uns haben Ruhekissen, Verordnungen, die vom Rektorat kommen, sondern wir müssen hinein tragen dasjenige […], was jedem von uns die volle Verantwortung gibt für das, was wir zu tun haben [...]. Jeder muss selbst voll verantwortlich sein. Ersatz für eine Rektoratsleitung wird geschaffen werden können dadurch, dass wir diesen Vorbereitungskurs einrichten und hier dasjenige arbeitend aufnehmen, was die Schule zur Einheit macht.« Man könnte sagen: Die Beschäftigung mit dem Menschen als geistig-­seelisch-physisches Wesen befähigt uns zu unserem Unterricht und zur Verwaltung der Schule! Der wesenhafte Geist der Schule individualisiert sich in allen auf ganz unvergleichliche Art und schafft doch Einmütigkeit, da er stets dieselbe Quelle ist. Voraus­setzung ist, dass wir diese Quelle wirklich kennenlernen und pflegen und außerdem bereit sind, volle Verantwortung für unser Handeln und unsere Entscheidungen zu übernehmen. Es genügt nicht, das alles zu wissen, es geht darum, ob wir es umsetzen und wie wir unser Tun neu beleben können.

Das Kollegium bringt das Herz der Schule zum Schlagen

Gelingt es uns, Begeisterung zu entwickeln für das, was der Mensch ist, was der Mensch im Weltganzen bedeutet? Pflegen wir dieses Menschenbild wie eine noch kleine, aber kostbare Pflanze, die nur durch unsere Beschäftigung mit ihr grünen, wachsen und blühen kann? Das wäre die Aufgabe vor allem des Herzstücks der Selbstverwaltung: der sogenannten pädagogischen Konferenz. Die Möglichkeiten sich dieser Aufgabe zu widmen, sind so vielfältig und reich, dass jedes Kollegium immer wieder eigene Wege finden kann, das Herz der Schule zum Schlagen zu bringen. Und sie sind vielversprechend: »[...] wenn wir sie (die Menschenkunde) immer wieder und wieder in uns erwecken, wenn wir auch nur fünf Minuten am Tag darauf zurückkommen, sie bringen alles innere Seelenleben in Bewegung. Wir werden innerlich so gedanken- und empfindungsfruchtbare Menschen, dass alles nur so aus uns heraussprudelt. Abends meditieren Sie über Menschenkunde und morgens quillt aus Ihnen heraus: ja, mit dem XY musst du jetzt dies oder das machen […] Kurz, Sie wissen, was Sie für den speziellen Fall anwenden müssen.« Solche Erlebnisse zu befördern, sich darüber auszutauschen, einzelne Kinder zu betrachten, sollte in keiner Pädagogischen Konferenz auf Dauer fehlen. Schöpfen wir unsere Ideen aus einem spirituellen Leben, aus einer Welt, die nur darauf wartet, uns ihre Schätze zu schenken! Dann finden wir auch das Richtige für die einzelne Schülerin, für den einzelnen Schüler. Dann entsteht ein kollegialer Zusammenhalt neuer Art. Dann bekommen wir ein Gespür dafür, wie unsere Persönlichkeit sich weitet, wie wir – in aller Bescheidenheit – über uns hinauswachsen, wie neue Ideen sprudeln und wie unsere bisherigen Urteile sich zu wandeln beginnen. Dann kann die Selbstverwaltung gelingen. Dann kann Waldorfpädagogik ihre Mission erfüllen: Ein rettendes Heilmittel für eine in seelischer und materieller Not versinkende Menschheit zu sein.

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