Selbstverwaltung ohne Stress?

Christoph Hueck

Doch nicht selten gibt es Stress, – und zwar in erster Linie im sozialen Miteinander. Stress mit Kollegen, Stress mit Eltern – weniger Stress mit Schülern. In der Lehrer-Schüler-Beziehung funktioniert Waldorf in den allermeisten Fällen gut, im kollegialen Miteinander und in der Kooperation mit den Eltern mäßig bis hin zu latenten Konflikten. Brechen Konflikte offen aus, kommen Geld- und Personalmangel hinzu, kann das eine Schulgemeinschaft schnell an den Rand des Abgrunds bringen. 

Vier Gründe für Waldorf-Stress

Selbstverwaltung Der erste, organisatorische Grund liegt in der Selbstverwaltung. Schon die Unterrichtstätigkeit der Waldorflehrer ist ein full time job, da zum eigentlichen Unterrichten vielfältige weitere pädagogische Aufgaben hinzukommen: Klassenfeste und -ausflüge, Schulfeiern, Theaterstücke, Zeugnisse, individuelle Beschäftigung mit einzelnen Schülern, Elternabende und -gespräche, Krankheitsvertretungen etc. Wenn man sich dann noch um Stundenplan-, Festgestaltungs-, Personal-, Bau-, Finanzierungs-, Öffentlichkeits- und andere Schulfragen kümmern muss, und wenn alles auch noch zur allgemeinen Bewusstseinsbildung und Entscheidungsfindung durch die Konferenz gehen muss, dann ist ein gesundes Wochenarbeitspensum bereits weit überschritten.

So lange man Selbstverwaltung will, lässt sich diese organisatorische Problematik nicht umgehen. Und so helfen hier nur Pragmatismus und Professionalität. Brauchen wir zum Beispiel wirklich eine Leitbild- und Logodiskussion zusätzlich zu all den schon vorhandenen Aufgaben? Muss ich wirklich in den verschiedensten Gremien dabei sein? Ist es wirklich sinnvoll, im Kollegium auf Einstimmigkeit zu setzen, anstatt für viele Bereiche einfache Mehrheitsentscheidungen zu akzeptieren?

Obwohl es für Viele ein Sakrileg ist, die Selbstverwaltung in Zweifel zu ziehen, sei doch eine Frage gestellt. Angenommen, man könnte sich voll und ganz auf seinen Unterricht und die damit verbundenen pädagogischen Aufgaben konzentrieren. Angenommen, man hätte am Nachmittag wirklich Zeit, den Unterricht nicht nur inhaltlich, sondern auch künstlerisch vorzubereiten. Angenommen, man hätte in der Konferenz ausgiebig Zeit für die gemeinsame Arbeit an den Grundlagen der Waldorfpädagogik, und man könnte in jeder Konferenz eine »Schülerbetrachtung« durchführen. Wäre das nicht eine ungeheure Stärkung des Waldorfimpulses, der Waldorfqualität und auch der Waldorfkollegialität?

Ansprüche Der zweite Grund für den Waldorf-Stress hat mit dem Anspruch der Waldorfpädagogen zu tun. Es ist ein in vielfacher Hinsicht äußerst anspruchsvoller Beruf, der das Leben oft ganz und gar ausfüllt. Oder kennen Sie Waldorflehrer, die nebenher noch ein Hobby pflegen oder eine außerschulische, ehrenamtliche Tätigkeit ausüben? Anspruchsvoll ist es auch, dass wir mit hohen Idealen arbeiten, Idealen bezüglich unseres Unterrichts sowie Ansprüchen an uns selbst. Diese Ideale können unsere Arbeit immer neu impulsieren und eine starke innere Kraftquelle sein, vor allem dann, wenn wir sie als Kollegium gemeinsam pflegen; aber sie können auch zum Joch werden, wenn sie von außen – durch Kollegen oder Eltern – als Forderungen an uns herangetragen werden.

Gegen diesen Waldorf-Stress helfen nur Milde, Humor, klare Abgrenzung und ein gutes Maß an Schicksalsvertrauen.

Schattenseiten  Ein dritter Grund für den Waldorf-Stress liegt im Persönlichen. Die Schattenseiten unserer Seelen sind hier gemeint, unsere Eitelkeiten, Überheblichkeiten, Verletzlichkeiten, die Geltungssucht, die Ängste, das Machtstreben, die Bequemlichkeit, die Resignation, und wie sie noch alle heißen.

Wie viel seelische Energie wird in den sozialen Zusammenhängen der Waldorfschulen und -kindergärten verschleudert, weil sich die Kollegen untereinander oder mit Eltern wegen solcher Seelenschatten in die Wolle kriegen. Hier könnten die Waldorfbewegten zur Selbsthilfe greifen, indem sie sich nicht nur Rudolf Steiners »Nebenübungen« gegenseitig zur psychischen Besserung empfehlen, sondern über den Tellerrand hinausblicken und sich für moderne, psychotherapeutische Methoden wie zum Beispiel die »Aussöhnung mit dem inneren Kind« öffnen. Methoden, die gut ausgearbeitet sind, und bereits in der Ausbildung zum Waldorfpädagogen bekannt gemacht oder auch erlernt werden könnten.

Dogmen Schließlich gibt es als Viertes dogmatische Gründe für den Waldorf-Stress. Dazu gehört das schon erwähnte Selbstverwaltungsdogma, aber auch das Wir-entscheiden-gemeinsam- und das Es-müssen-immer-alle-einverstanden-sein-Dogma. Kollegien können sich durch solche – traditionell gelebten, aber oft nicht klar formulierten – Ansprüche gegenseitig blockieren, und sie schaffen damit den Boden für informelle Machtstrukturen, die zwar äußerst wirksam sind, aber meist keine klare Verantwortlichkeit zulassen und häufig zu Unmut führen.

Zusätzlich zu diesen vier strukturellen Gründen des Waldorf-Stresses gibt es eine Reihe von eher persönlichen Stress-Ursachen – und damit auch Stress-Vermeidungs-Möglichkeiten. Hierzu gehört die Art und Weise der Kommunikation, die innere Einstellung zur Arbeit und zum eigenen Schicksal, sowie der Umgang mit eigenen und fremden Initiativen.

Achtsamkeit beim Reden

In Waldorfeinrichtungen wird sehr viel miteinander ge- und besprochen. Wie gut! Aber es gibt dabei einige schwerwiegende Probleme. Wer kennt nicht die innerlich langsam aufsteigende Aggression, wenn jemand anderes auf eine bestimmte Art und Weise spricht – und dann das Unterdrücken der Aggression, weil man den Anderen doch ausreden lassen soll? Nicht selten stellt sich auch noch das Urteil ein, dass man mit solch aggressiven Gefühlen doch ein recht schlechter Mensch sei und an sich arbeiten müsse. Unter der Oberfläche der vermeintlich freundlichen Kommunikation lebt eine zweite, ganz konträre Gefühlswelt. Gesund ist das nicht.

Fragen wir einmal ungeschminkt und nüchtern: Was macht die Zuhörer aggressiv? – Wenn lange geredet wird. Wenn unkonzentriert und unklar geredet wird. Wenn mit Wiederholungen geredet wird. Wenn es dem Redner vor allem um den Genuß am eigenen Reden geht. Wenn das Reden einen Subtext hat, bei dem es um etwas ganz anderes geht, zum Beispiel darum, die Aufmerksamkeit der Zuhörer auf sich zu ziehen. Wenn sich der Redner in seinen eigenen Gedankenwelten verliert. Wenn das Reden theoretisch und abstrakt ist. Wenn das Reden manipulativ ist, um die Gefühle oder den Willen der Zuhörer in eine bestimmte Richtung zu lenken.

Nun lässt sich – im Gegensatz zu den anderen Gründen des Waldorf-Stresses – am (eigenen) Reden relativ leicht etwas verändern. Ein einfacher und sehr wirkungsvoller Schritt besteht zum Beispiel darin, beim Sprechen immer wieder den Blickkontakt mit den Zuhörern zu suchen. Es geht ja darum, dass ich anderen etwas mitteilen möchte. Durch den Blick trete ich wirklich in Kontakt mit ihnen, und so wird das Sprechen zu einer echten Begegnung anstatt zu einer Soloveranstaltung. Anthroposophisch ausgedrückt: Durch den Blickkontakt ziehen die beiden Ichwesen – das des Sprechenden und das des Zuhörenden – wirklich in das Gespräch ein, anstatt dass es sich um eine bloß astrale Veranstaltung handelt. Außerdem sollte das Sprechen vom Mut zur Wahrheit (keine Subtexte), Mut zur Klarheit (Wiederholungen vermeiden, keine allgemeinen und moralisierenden Statements), und vom Mut zur Verantwortung (»ich« statt »man«) durchdrungen sein.

Sich aufgehoben fühlen

Was die Einstellung zur Arbeit angeht, hilft es, das Gegebene, vor allem das Unvollkommene, vertrauensvoll zu akzeptieren, anstatt es immerfort an sich oder anderen zu bemängeln. Es hilft, auf eine höhere Führung zu vertrauen und sich immer wieder neu geborgen zu fühlen in der Hilfe der geistigen Welt, so wie man sich als Kind in den Armen der Eltern geborgen fühlte. Es ist gut, sich immer wieder bewusst zu machen, dass wir als Waldorfbewegung in einem kulturhistorischen Strom stehen, der eine die ganze Menschheit umfassende Aufgabe hat, aber erst hundert Jahre alt ist. Es ist schön, in jeder einzelnen Begegnung, und sei sie nur zwischen Tür und Angel, die kleine Entwicklungsmöglichkeit zu suchen und zu nutzen. Und es hilft, Verbesserungen in erster Linie von sich selbst und nicht von anderen zu erwarten.

Initiativen begrüßen

Schließlich noch ein Wort zu den Initiativen. Initiativen sind die wichtigste Ressource der Waldorfpädagogik, denn auf die Tatkraft kommt es an! Initiative kann immer nur der individuelle Mensch entwickeln und auch verantworten. Wird er oder sie dabei unterstützt, so stärkt das die Persönlichkeit und damit auch die Gemeinschaft. Insofern ist es kontraproduktiv, wenn Initiativen blockiert werden. Selbstverständlich darf eine Initiative keine Privatveranstaltung sein, sondern muss im Zusammenhang des ganzen Schulorganismus stehen.

Aber man braucht auch nicht gleich bei jeder Idee, die vielleicht auf den ersten Blick nicht 100-prozentig waldorfkonform aussieht, den Untergang zu beschwören. »Leben in der Liebe zum Handeln und Lebenlassen im Verständnisse des fremden Wollens ist die Grundmaxime des freien Menschen«, schreibt Rudolf Steiner in seiner Philosophie der Freiheit. Und so hilft es auch gegen den Stress, wenn man nicht immer alles mitentscheiden will, sondern darauf vertraut, dass auch Kollegen gute Entscheidungen treffen können.

Das Wichtigste für die Zukunft der Waldorfschulen und -kindergärten wäre, die Konferenz wieder (denn das ist sie oft nicht mehr) zu einem Ort wirklich pädagogischen Austausches zu machen, wo sich die Lehrerinnen und Lehrer gemeinsam fortbilden, wo sie neue Ideen aus der anthroposophischen Menschenkunde aufnehmen und sich mit dem spirituellen Strom einer Pädagogik verbinden können, die in unserer Zeit immer dringender benötigt wird. Ob und inwiefern es einem Kollegium gelingt, pädagogikferne Themen aus der Konferenz auszulagern und sich auf ihr Kernanliegen zu besinnen, zeigt, wie zukunftsfähig es ist. Und es wirkt – neben allen anderen erwähnten Aspekten – gerade diese Besinnung am allerbesten gegen den Stress.

Zum Autor: Dr. Christoph Hueck, Dozent für Waldorfpädagogik, Anthroposophie und anthroposophische Meditation, Mitbegründer der Akanthos Akademie Stuttgart.

Literatur:

E. Chopich, M. Paul: Aussöhnung mit dem inneren Kind, Berlin 2005

S. Stahl: Das Kind in dir muss Heimat finden, München 2017