Selbstverwaltungsorganisationen müssen delegieren können

Udo Herrmannstorfer

Eine Schule lebt von den Beiträgen der an ihr beteiligten Menschen. Auf welche Weise und an welcher Stelle können die einzelnen Menschen ihr Leistungspotenzial in die Schule aktiv einbringen? Aber auch: Wie kann sichergestellt werden, dass die individuellen Handlungen Einzelner als Ausdruck des gemeinsamen Anliegens empfunden werden? Diese Koor­dination ist unumgänglich, sobald nicht mehr alle Beteiligten alle Angelegenheiten der Schule gemeinsam regeln, sondern die Gesamtaufgabe untereinander aufteilen.

Der Gefahr der Zersplitterung in persönliche Ambitionen ist dabei ebenso vorzubeugen wie der Tendenz, alle Handlungen einem gemeinschaftlichen Bewilligungsverfahren zu unterwerfen. Um die offensichtlich notwendige Koordination zwischen der Gemeinschaft und ihren Mitgliedern zu ermöglichen, darf man die beiden »Selbste« nicht als Gegensätze betrachten. Vielmehr sollte man sie als Pole sehen, deren Spannung durch einen rhythmischen Prozess gesteigert wird, was Energie für Initiativen schafft. Jede Handlung durchläuft bei ihrer Entstehung und Verwirklichung die Interessenssphäre der Gemeinschaft, ruft das Handlungspotenzial der beteiligten Individualitäten zu schöpferischer Initiative auf und fügt sich wieder der Gemeinschaft ein. Die rhythmische Verbindung zwischen beiden Polen bewirkt eine gleichzeitige Durchdringung beider Anliegen. – Die einzelnen Stufen dieses grundlegenden Prozesses bezeichne ich als »Dynamische Delegation«.

1. Phase: Sich einer Aufgabe bewusst werden

Am Anfang steht ein Bedürfnis. Ohne Frage keine Antwort. Diese Vorphase einer Handlung verlangt Sensibilität für den Handlungsbedarf. Erkennt oder spürt man, dass die inneren oder äußeren Verhältnisse Handlungsbedarf signalisieren, ist es an der Zeit, sich in der Gemeinschaft ein Bild darüber zu verschaffen. Diese Phase wird oft »Bildgestaltung« genannt. Indem man sich ein gründliches Bild verschafft, beginnt aber bereits die Frage nach der Betroffenheit. Die Antwort heißt Ablehnung oder weitere Beschäftigung damit. Die gemeinschaftliche Beschäftigung damit bringt nicht nur Weitung der Erkenntnis, sondern schafft auch einen Nährboden für die späteren Lösungen.

2. Phase: Das Problem, einer Frage auf den Grund zu gehen

Das Bild allein genügt nicht. Man muss es zum Sprechen bringen. Die gemeinsam in den Blick genommenen Probleme müssen als Symptome gedeutet werden, die auf tiefere Ursachen hinweisen. Ein erster Schritt, den Dingen auf den Grund zu gehen, ist der Blick auf den Kontext eines Problems, dessen Lebensumfeld. Ein zweiter Schritt liegt darin, die Genese des Problems ins Auge zu fassen. Wie hat sich das Problem entwickelt? Ein dritter Schritt kann sein, auf die geistigen Kräfte, die an der Entwicklung beteiligt sind, und auf ihre Wirkungen zu blicken.

Auch diese Phase ist gemeinschaftsorientiert. Die Akteure identifizieren sich zunehmend mit der anstehenden Aufgabe. Sie bündeln ihre Erkenntnisse und Erfahrungen. Das bereitet den geistigen Boden für spätere Handlungen und Entscheidungen.

3. Phase: Individuelle Antworten auf gemeinsame Fragen finden

War in den beiden ersten Phasen die Gemeinschaft unverzichtbar, kommt sie jetzt an ihre Grenze. Soll sie nicht an der Fülle ersticken oder in hektischer Geschäftigkeit oberflächlich werden, muss sie ein elementares Interesse daran haben, dass sich einzelne Menschen oder kleine Gruppen mit unterschiedlichen Aufgaben beschäftigen. Dieser Übergang wird in der Regel »Delegation« genannt. Die Verteilung der Aufgaben kann manchmal für eine gewisse Zeit strukturell geregelt sein, manchmal eher von Fall zu Fall erfolgen. – In der Neigung, bei der Verteilung bereits die späteren Handlungen möglichst genau vorzudefinieren, spiegelt sich der mangelnde Wille zum Loslassen und die Angst davor, das schöpferische Potenzial der Menschen zu aktivieren. Gemeinschaft wird zur Macht, kaschiert in der Delegation. Die Initiativkräfte werden gelähmt, wenn die Verantwortung nicht wirklich delegiert wird und alles später von der Gemeinschaft noch einmal beraten und entschieden wird.

Prozesshaft gedacht wird eine Handlung in den beiden ersten Schritten sozialisiert. Dabei können Kriterien gefunden werden, die den beauftragten Menschen mitgegeben werden.

4. Phase: Eine Entscheidung herbeiführen

Im Kern bedeutet dies: Die Menschen, die eine Aufgabe übernommen haben, sollen auch die damit verbundenen Entscheidungen herbeiführen oder treffen, wenn nicht wichtige Gründe für einen ergänzenden Gemeinschaftsprozess im Entscheidungsfall sprechen. Dass dabei andere existierende Kompetenzen beachtet und in die Lösungsentwicklung einbezogen werden müssen, ist selbstverständlich. Abweichungen bedürfen der vorherigen Absprache. Die an der Entscheidungsfindung nicht direkt Beteiligten lernen, auch Entscheidungen anderer verantwortlich mitzutragen. Sie können dies, weil sie in den beiden vorbereitenden Stufen beratend mit einbezogen waren.

5. Phase: Eine Entscheidung verwirklichen

Wenn nichts anderes vereinbart wurde, sind diejenigen, die die Entscheidung getroffen haben, auch für ihre Umsetzung verantwortlich.

Sie können dabei auf die Hilfe aller anderen zählen. Natürlich eignet sich dieser Punkt auch für eine Zäsur und damit eine Verlagerung der Verantwortung in andere Hände, vor allem, wenn die Entscheidung in einer großen Gruppe gefallen ist.

Aber mit der Umsetzung allein ist es nicht getan. Wir müssen jetzt wieder in das Gemeinschaftliche zurückkommen.

6. Phase: Rückblicken – Rechenschaft leisten

Während die Handlung ihre Wirkung in das soziale Leben hinein entfaltet, bleibt die Gewissensfrage, ob sie dem Leben in dieser Situation auch gerecht wurde. Deshalb folgt eine Phase des Rückblicks: Anschauen lernen, was bewirkt wurde. An diesem Prozess kann wieder die ganze Gemeinschaft teilnehmen und ihre Wahr­nehmungen beitragen. Er erlaubt allen, sich mit der vergangenen Handlung wieder zu verbinden. Der Zeitpunkt für einen Rückblick sollte so gewählt sein, dass sich die beabsichtigten Wirkungen zeigen können.

Bei der Zusammenarbeit entstehen aber auch individuelle Erfahrungen bei den Trägern des Prozesses, die sie stellvertretend für alle anderen durchlebt haben.

Rechenschaft geben soll heißen, auf diesen Fundus zurückzugreifen. Bei der Rechenschaft lassen einzelne Menschen die anderen an ihrem Erfahrungs- und Erkenntnisfortschritt teilnehmen.

Dass Rückblick und Rechenschaft oft ausgelassen werden, wird häufig mit Zeitmangel begründet. Der Nichtvollzug verschleudert aber wichtigste geistige und seelische Substanz, die zur Weiterentwicklung der Gemeinschaft dringend benötigt wird.

7. Phase: Verantwortung mittragen – die Entlastung

Wir sind von Fragen und Problemen ausgegangen, die sich der Gemeinschaft gestellt haben. Nach der grundsätzlichen Bearbeitung in der Gemeinschaft wurde die weitere Bearbeitung an einzelne Menschen oder kleine Gruppen übergeben. Damit hat sich zwar die Gemeinschaft zunächst von einer Sorge befreit, aber nur deshalb, weil Einzelne die Last auf sich genommen haben. Nachdem sich nun die Wirkungen in der Gemeinschaft zeigen, ist es an der Zeit, dass die Gemeinschaft die Verantwortung wieder auf ihre Schultern nimmt. Jetzt muss die Gemeinschaft die Konsequenzen der Delegation auf sich nehmen. Diese Wiederbelastung der Gemeinschaft mit den Folgen desjenigen, was Einzelne für sie und in ihrem Auftrag getan haben, kann man »Entlastung« nennen. Im Mittragen der Verantwortung, auch ihrer Konsequenzen, wird die Gemeinschaft real.

Zum Autor: Udo Herrmannstorfer ist als Unternehmensberater tätig; er begleitet Initiativen, die nach neuen Formen suchen – vor dem Hintergrund der Idee der Dreigliederung des sozialen Organismus. Internationale Vortrags- und Seminartätigkeit, Leiter des Instituts für zeitgemäße Wirtschafts- und Sozialgestaltung in Dornach.

Link:

www.wegezurqualitaet.info

Literatur:

Udo Herrmannstorfer: »Achtung Erstickungsgefahr! – Zum Thema Delegation und kollegiale Führung«, Erziehungskunst, 7/8 2002