Soziales Lernen durch Erlebnispädagogik

Peter Schrey

Ich sah Robert, sechste Klasse, in der Pausenhalle mit Tränen in den Augen. Ich fragte ihn, was los sei. Er nannte einige Jungs seiner Klasse, die ihn geärgert hatten. »Ich fühle mich wie eine Zielscheibe und alle Pfeile treffen ins Herz.« Wenig später Dorothea aus der achten Klasse, in der eine unhaltbare Mobbingsituation herrscht: »Keiner hilft. Man fühlt sich nur noch ohnmächtig, möchte einfach nur noch seinen Frieden, aber die anderen interessiert es nicht. Sie machen weiter und weiter und weiter, bis die Schulzeit vorbei ist. Manchmal möchte man sterben, fühlt sich wie eine Puppe, mit der die anderen spielen.«

Fragt man Schüler nach dem Ausmaß von Aggression unter ihnen, zeigt sich über Schulen und Schultypen hinweg ein erstaunlich einheitliches Bild: in jeder Klasse gibt es Opfer, Täter und Mitschüler, die präzise berichten können. Fragt man hingegen Lehrer, wird Aggression im Klassenkontext meist unterschätzt.

Ausgrenzen, einschüchtern, einen Sündenbock suchen – Mobbing ist ein alltägliches Phänomen in unserer Gesellschaft und kommt in allen Lebensbereichen vor – vor allem in der Schule. Jedes siebte Schulkind, sagen Experten, werde irgendwann im Laufe seiner Schulzeit zum Mobbing-Opfer. Umso wichtiger ist es, so früh wie möglich etwas dagegen zu unternehmen.

In den letzten Jahren ist ein zunehmend steigendes Interesse an erlebnispädagogischen Klassenfahrten oder Abenteuer-Camps zu beobachten. Viele Sozialpädagogen und Lehrer bestätigen den Erfolg, den erlebnispädagogische Elemente in der Arbeit mit Schülern und Jugendlichen haben. Doch die Angebote sind von kurzer Dauer und haben keinen festen Platz im Alltag der Schüler. Vor diesem Hintergrund konzipierte Aventerra e.V. das Programm »Geh Wald statt Gewalt!« Eine Waldorfschule und zwei Grundschulen machen bisher positive Erfahrungen damit.

Ausgebildete Erlebnispädagogen begleiten die Schüler in wöchentlichen Angeboten oder in Zweitagesblöcken. Die vom Stillsitzen geplagten Schüler kommen voller Freude. »Ich hab’s geschafft« – Ziel ist, das Selbstwertgefühl der jungen Menschen zu stärken und Erfolgserlebnisse zu vermitteln.

Nach ein paar Kooperationsspielen werden die Inhalte vermittelt, die auf dem Programm stehen. Mal bedeutet das Knoten üben und Seiltechniken lernen, dann wieder Wetterkunde, ein Baumhaus bauen oder Erste Hilfe. Die Schüler lernen, die Ohren zu spitzen für die Geräusche, die der Wald und der Wind machen. Der ganzheitliche Ansatz ist ein Charakteristikum des Programms, genauso wie der anschließende Transfer. Das Baumhaus-Thema zum Beispiel wirft Fragen nach dem Zuhause auf: Wo oder wer ist mein Zuhause? Bin ich in mir selbst zu Hause? Oder: Wie baue ich mir mein Zuhause? – So lernen sie, in sich hineinzuhören, und auch innere Fähigkeiten zu schulen.

Das Programm läuft über mindestens ein Schuljahr, damit die Veränderungen im Sozialverhalten nachhaltig wirken. Die jungen Persönlichkeiten spüren, dass die Abenteuerluft sie packt und berührt. Sie machen Erfahrungen, die sie sonst nicht machen können – und das brauchen gerade die, die noch wachsen und auf dem Weg zu sich sind.

Das Programm ist in vier zehnwöchige Module mit jeweils einem Oberthema gegliedert:

Wahrnehmung

Mit Hilfe von Wahrnehmungsspielen kommen die Schüler miteinander in Kontakt. Die positive Wahrnehmung des eigenen Körpers und der eigenen Ressourcen stärkt das Selbstbewusstsein. Gegenseitige Wahrnehmung ist die Grundlage für einen respektvollen und achtsamen Umgang miteinander und der Umwelt. Zwei Kinder heben zum Beispiel aus einem Haufen imaginärer, farbiger Bettlaken eines auf und legen es zu einem ordentlichen Paket zusammen; am Ende muss es in einen Schrank gelegt werden.

Vertrauen 

Jedes Kind braucht ein gewisses Maß an Vertrauen, um sich entwickeln zu können – Vertrauen in die Erwachsenen, Gleichaltrigen und sich selbst. Ein Beispiel: Mehrere Seile sind auf dreißig Zentimeter Höhe hintereinander gespannt. Die einzelnen Bereiche zwischen den Pfählen sind mit unterschiedlichen Techniken zu überqueren. Das Seil darf nicht verlassen werden. Wenn alle Teilnehmer das Ziel ohne Absteigen erreicht haben, ist die Aufgabe geschafft.

Kommunikation und Interaktion

Mit Hilfe des nach Marshall Rosenbergs »Gewaltfreier Kommunikation« entwickelten Programms werden Grundsätze anerkennender und achtsamer Sprache vermittelt und geübt. Die Kinder werden vor altersgemäße Herausforderungen gestellt, die sie nur im gemeinsamen Dialog lösen können. Eine Gruppe von Kindern muss zum Beispiel mit verbundenen Augen ein Zelt aufbauen und darf sich nur verbal absprechen.

Kooperation

Kooperationsaufgaben und -spiele lassen die Schüler gemeinsam tätig werden: Nur zusammen ist diese Art von Aufgaben zu lösen, doch jeder einzelne ist dafür unentbehrlich. Die Schüler unterstützen sich gegenseitig und lernen sich so neu wertschätzen. Wieder ein Beispiel: Auf einer sechs Meter langen und zweieinhalb Meter breiten Wippe steigt eine Gruppe von maximal vierzehn Personen von beiden Seiten auf. Dabei darf die Wippe auf keiner der beiden Seiten die Erde berühren. ‹›

Hinweis: In Kooperation mit dem Bund der Freien Waldorfschulen findet vom 1. bis 3. Oktober 2010 in Stuttgart eine Tagung zum Thema »Achtsamkeit und Wertevermittlung – die Wirksamkeit der Erlebnispädagogik« statt.

Programm und Anmeldung unter: www.aventerra.de/tagung