Beziehungsfrage

Nelson Gleich

Tue ich etwas Gutes, werde ich immer einen finden, der mit dieser Bewertung nicht einverstanden ist. Das kann man mit der subjektiven Ansicht jedes Einzelnen erklären, diese wiederum kann von kulturellen oder religiösen Prägungen und Erfahrungen abhängen. Nichts Gegebenes lässt sich als vollkommen gut klassifizieren, es benötigt immer die Bewertung aller Beteiligten.

Die meisten Menschen sind sich sicher, etwas Gutes getan zu haben, wenn sie anderen helfen, wenn sie selbstlos sind. Dabei sollte man nicht vergessen, dass man auch sich selbst Gutes tun sollte und damit nicht sofort eigennützig wird. Wenn man sich nur um andere sorgt und das eigene Wohlbefinden vernachlässigt, wird man nicht lange in der Lage sein, anderen helfen zu können, da man selbst hilfsbedürftig wird. Dieses Problem kann von Unausgeglichenheit im Kontakt mit anderen Mitmenschen bis zum Burnout-Syndrom viele Formen annehmen. Auch nur sich selbst zu helfen führt relativ schnell ins Nichts, da man dann, um sich selbst wirklich gut zu fühlen, es sowohl schaffen muss, alle Mitmenschen radikal zu ignorieren, als auch erfolgreich die wachsende Langeweile in der Beschäftigung mit sich selbst zu bekämpfen. Auf Dauer wohl kaum möglich.

Das Gute besteht aus einem Gleichgewicht zwischen eigenem und anderem Wohl, zwischen Selbst- und Nächstenliebe.

Eine weitere Frage ist, ob bei einer guten Tat die Intention oder das Ergebnis ausschlaggebend sind. Man stelle sich folgende Situation vor: Ein junger Mann hilft spontan einem Rollstuhlfahrer über eine Treppe nach oben. Am Fuß der Treppe legt in diesem Moment ein anderer Mann seine Müllsäcke ab, vermutlich weil er den letzten Termin zur Abholung verschlafen hat und die Müllsäcke nicht in seiner Wohnung lagern will.

Der Rollstuhlfahrer und sein Helfer echauffieren sich gemeinsam über dieses Verhalten, als plötzlich der junge Mann ins Rutschen kommt und die beiden Männer mitsamt Rollstuhl rückwärts die Treppe hinunter fallen. Nun sind es ausgerechnet die Müllsäcke, welche schlimmere Verletzungen bei beiden verhindern.

Ist nun der hilfsbereite Mann zu einem geworden, der sich einbildete, er könne dem Rollstuhlfahrer helfen und sich damit maßlos überschätzte? Und der andere Herr, welcher seinen Müll an öffentlichen Plätzen entsorgt, wird zum eigentlichen Guten? Spontan würden die meisten wohl sagen, der hilfsbereite Mann bleibt weiterhin der Gute. Aber er wäre auch für die schlimmen Verletzungen verantwortlich, wenn der andere Herr seinen Müll ordnungsgemäß entsorgt hätte.

Ob eine Tat gut oder schlecht ist, kann nicht per se beantwortet werden. Erst im Zusammenspiel der verschiedenen Handlungen und Motive können Aspekte des Guten aufschimmern.

Zum Autor: Nelson Gleich hat in diesem Jahr sein Abitur an der Freien Waldorfschule Uhlandshöhe, Stuttgart, gemacht.