Durch Schönheit erkennen – ein Genuss

Henning Kullak-Ublick

Wenn Kinder in ihren ersten Lebensjahren lernen, sich aufzurichten, zu gehen, zu sprechen und zu denken, erlangen sie stufenweise Autonomie, indem sie handelnd nachahmen, was sie bei den Erwachsenen wahrnehmen. So paradox es zunächst klingen mag: Individuell werden wir, indem wir uns an andere hingeben.

Diese Hingabefähigkeit verlagert sich ungefähr um die Zeit des Zahnwechsels zunehmend ins innere, seelische Miterleben der Welt. Gleichzeitig wächst die Fähigkeit der Kinder, gezielt Vorstellungen zu bilden, sich zu erinnern oder die Aufmerksamkeit willentlich auf etwas zu richten. Das Gefühl wird zu einem Wahrnehmungsorgan für die Welt, in dem sich die erwachende bewusste Begegnung mit ihr und das immer noch vorhandene Nachahmen-Wollen durchdringen.

Man merkt den Kindern ein tiefes Bedürfnis danach an, mit der Wahrheit, Schönheit und Moralität der Welt mitzuschwingen, denn diese bilden noch eine Einheit miteinander. Zugang  zum Guten und Wahren finden die Kinder durch die Schönheit – wie uns alle Märchen erzählen, in denen das Gute immer in Gestalt einer wunderschönen Prinzessin oder eines schönen Prinzen auftritt, das Böse aber hässlich ist und selbst wenn es sich verstellt, am Ende doch seine Fratze zeigen muss.

Kinder erfahren in gut erzählten Geschichten, in der Schönheit von Zeichnungen, Liedern oder Lauten viel mehr als nackte Informationen: Sie erspüren das Wesenhafte in den Dingen und bauen fortwährend an der Substanz, aus der später einmal eine reife Urteilskraft werden kann. Vor dieser liegt aber die sinnliche-sittliche Erforschung der Welt, kurz: ihr Genuss.

Das schöne Wort in lauschende Ohren

Um das neunte Lebensjahr herum sind die unbewussten Nachahmungskräfte weitgehend ausgeschöpft und die Kinder stellen sich in ein neues Verhältnis zur Welt. Bis zu diesem Zeitpunkt lieben sie es, wenn die Erwachsenen ihnen die Naturreiche, die Tiere, Pflanzen oder Mineralien über Erzählungen nahebringen, in denen sich die Welt moralisch darstellt. Moralisch – aber in einer ästhetischen Form! »Schön« und »gut« sind die beiden  Seiten der gleichen Medaille und die Kinder genießen es, das in immer neuen Bildern und Erfahrungen zu durchfühlen. In den Fabeln des zweiten Schuljahrs, die seelische Einseitigkeiten von Menschen durch Tiergestalten charakterisieren oder in Legenden wie der Vogelpredigt des heiligen Franziskus, der seinen Egoismus durch Liebe überwindet, setzt sich das fort. Entscheidend wichtig ist dabei allerdings, nicht durch den moralischen Zeigefinger alles zu banalisieren, sondern die Erzählung so in das Unterrichtsgeschehen einzubetten, dass sich aus dem lebendigen Bild ein Gefühl der Befriedigung einstellen und im Stillen weiterwirken kann. Wer jemals erlebt hat, wie eine ausgelassen schnatternde Klasse sich innerhalb von Minuten in ein einziges großes, lauschendes Ohr verwandelt, wenn eine Geschichte in schönen Worten erzählt wird, weiß, mit welcher Innigkeit die Kinder sich auf die Welt einzulassen vermögen.

Wissen in ästhetischer Form

Im dritten Schuljahr findet ein bedeutender Umschwung statt. Die Kinder beginnen, ihre Aufmerksamkeit immer mehr auf die Natur selbst zu richten. Allerdings verlangen sie nicht nach abstraktem Wissen, sondern nach einem Bezugspunkt, zu dem sie ein unmittelbares Verhältnis aufbauen können: Das ist der Mensch selbst. Das Wissen, nach dem sie sich sehnen, ist ein bildhaftes Wissen, symbolisch, urbildlich und transparent für das Erahnen eines größeren Zusammenhanges, der alle einzelnen Erscheinungen durchwebt. Wie ein gutes Gedicht mehr als nur eine Information liefert, so muss auch der Unterricht in diesem Alter so komponiert sein, dass er den künstlerisch-ästhetischen Sinn der Kinder berührt, der allein ihre Phantasie und Erkenntnislust ansprechen kann. Es macht, um bei der Naturerkenntnis zu bleiben, einen großen Unterschied, ob man die Tiere und Pflanzen in ihrem Verhältnis zum Menschen kennenlernt oder die Natur von vorneherein als ein äußerliches Objekt betrachtet, das in keinerlei Beziehung zum Menschen steht.

Ein bloßer Anschauungsunterricht führt letztlich zur Gleichgültigkeit, während die Ackerbau-Epochen im dritten Schuljahr, in denen gepflügt, geeggt, gesät, geerntet, gedroschen, gemahlen und gebacken wird, gleich eine Fülle von Fähigkeiten und Erkenntnissen wecken: Die Kinder lernen etwas über die Arbeit, die in jedem einzelnen Brötchen steckt, über die Zeit und die Verantwortung des Menschen gegenüber den anderen Naturreichen, über ökonomische und soziale Strukturen – und legen ganz nebenbei noch die Grundlagen für das spätere naturwissenschaftliche Denken und Arbeiten.

Noch deutlicher wird das beim Naturkundeunterricht der vierten und fünften Klassen, bei denen die Tiergestalten und ihre Physiologie immer in ein Verhältnis zum Menschen gesetzt werden. Ein tiefes Gefühl für die Verantwortung des Menschen gegenüber der Welt kann entstehen, wenn die menschliche Hand mit den Tatzen eines Löwen, den Klauen eines Greifvogels oder den Schaufeln eines Maulwurfes verglichen und deutlich wird, dass deren Gliedmaßen zwar weitaus prägnanter ausgebildet sind, als die ganz unfertige menschliche Hand, dass letztere aber geeignet ist, die ganze Welt zu verändern, je nachdem, was wir mit ihr tun.

Die Kinder haben für solche Einsichten ein unmittelbares Verständnis, wenn sie von den Erwachsenen auf einen Weg der Beschreibung, Beobachtung und des In-Beziehung-Setzens mitgenommen werden. Überhaupt ist die Mitte der Kindheit geprägt durch eine unglaubliche Freude an der künstlerischen Durchdringung aller denkbaren Gegenstände, was sich auch in der Gestaltung der Epochenhefte, beim Musizieren, Theaterspielen oder in der natürlichen Harmonie der kindlichen Bewegungen zeigt.

Die Phänomene für sich sprechen lassen

Ein weiterer bedeutender Umschwung vollzieht sich um das zwölfte Lebensjahr. Die Pubertät kündigt sich an, unter anderem durch die wachsende Lust am eigenen Urteilen. Jetzt kehrt sich das Verhältnis von Mensch und Natur um. Vorher blickte man durch den Menschen auf die Natur, jetzt sollen die Naturerscheinungen durch sich selbst sprechen und ein neues Licht auf den Menschen werfen. So kann man in der Optik die Strahlenbrechung erkunden und dann im menschlichen Auge wiederfinden oder die physikalischen Hebelgesetze, die sich im menschlichen Skelett ebenfalls zeigen. Auch die Prozesse von Verbrennung, Säure- und Laugenbildung lassen sich auf den Menschen, insbesondere seine Verdauungstätigkeit beziehen. Wenn die Phänomene zu sprechen beginnen, erzählen sie vom Menschen als Teil der Natur. Wer schon einmal mit einer sechsten Klasse geometrische Formen gezeichnet, ergründet und neu konstruiert hat, kennt die unbändige Freude der Kinder an der Schönheit, die sich aus der Präzision der Zeichnungen entwickelt. Aus diesem ästhetischen Erlebnis wird staunendes Erkennen, wenn man ähnliche Strukturen beispielsweise auf der Unterseite eines Kiefernzapfens entdeckt (siehe Schüler­­zeichnung links). Schönheit und Erkennen bilden wieder eine Einheit, aber auf einer neuen Stufe, weil jetzt die zuerst gedachte, dann konstruierte Wirklichkeit in der Welt wieder aufgefunden wird.

Die Welt als sinnerfülltes schönes Kunstwerk

In den drei geschilderten Abschnitten des »zweiten Jahr­siebts« suchen die Kinder nach Menschen, die in der Lage sind, ihnen die Dinge in ihren Verhältnissen zueinander künstlerisch und zugleich gedanklich aufzuschlüsseln. Autorität entsteht dadurch, dass die Kinder an ihren Lehrern und Lehrerinnen erleben, wie diese die Welt mit ihrem Denken und Urteilen erfassen und sie durch ihre künstlerische Phantasie von neuem erschaffen, – als sinnerfülltes Kunstwerk, in dem alles auf den Menschen und der Mensch auf alles bezogen ist. Von ihrem ästhetischen Empfinden geleitet, suchen die Kinder nach Schönheit und Harmonie in der Welt, die sie umgibt.

Die größte Herausforderung für Lehrer, die mit Kindern im zweiten Jahrsiebt umgehen, besteht darin, trotz allen Wissens immer aufs Neue selbst zu staunen, Freude an der schöpferischen Natur zu haben und sich vorbehaltlos für die Welt zu interessieren. Nur so können die Lehrer dem Vertrauen gerecht werden, das die Kinder ihnen entgegenbringen. Lernen im zweiten Jahrsiebt heißt, die Welt als Kunstwerk, als schöpferischen Prozess erfahren und damit eine Grundlage für alles selbstständige Erkennen im späteren Leben zu legen, denn nur aus Kreativität kann Kreativität entspringen. Lebendige Begriffe kann man nur bilden, wenn man sich nicht in fertigen Definitionen bewegt, sondern die Dinge in Beziehung zueinander bringt. Das ist im Wesentlichen ein künstlerischer Vorgang, den die Lehrer zuerst selbst erleben müssen, um ihn dann für die Kinder zum Erlebnis werden zu lassen.

Nur lebendige, prozessuale, also künstlerisch-ästhetische Begriffe können mit den Kindern mitwachsen und sich verwandeln, wenn diese älter werden. Abstrakte Definitionen verändern sich nicht und veranlagen seelische Erstarrung. Begriffe dagegen, die aus den Beziehungen entstehen, die an den Dingen erlebt werden, die aus den Dingen selbst entspringen, bleiben elastisch, erweitern sich und wachsen mit dem Menschen mit. Erkennen im zweiten Jahrsiebt heißt immer auch: Genießen. Wenn Erkenntnis zum Genuss wird, bleibt sie interessant.

Zum Autor: Henning Kullak-Ublick ist in der Öffentlichkeitsarbeit in Hamburg tätig und Vorstand im Bund der Freien Waldorfschulen.

Literatur: Henning Kullak-Ublick: Jedes Kind ein Könner. Fragen und Antworten zur Waldorfpädagogik, Verlag Freies Geistesleben, Stuttgart 2014