Was ist Wahrheit? Zur Pädagogik der Oberstufe

Peter Guttenhöfer

Schwankender Boden

Wenn wir nach der Wahrheit fragen, geraten wir ganz schnell auf schwankenden Boden. Kann man nicht sogar lügen mit der Wahrheit? Und kann man nicht auch mit der Wahrheit verletzen? Wenn beispielsweise ein Satter durch ein Hungergebiet reist und zu den Verhungernden sagt: »Der Mensch lebt nicht vom Brot allein?« Kann das Aussprechen einer solchen tiefen Wahrheit im falschen Augenblick oder am falschen Ort eine arrogante Phrase, eine schrille Gemeinheit oder gar eine Unwahrheit bedeuten?

»Wer aus der Wahrheit ist, der höret meine Stimme«, sagt Christus. Darauf spricht Pilatus zu ihm: »Was ist Wahrheit?« (Joh. 18, 37–38). Diese Frage des Pilatus’ angesichts einer ungeheuren Herausforderung durch das Weltgericht schwebt, seitdem sie im Johannesevangelium ausgesprochen worden ist, über allen philosophischen Systemen, die im Abendland erdacht worden sind. Und in einem solchen Kontext sagt Rudolf Steiner in seiner die Waldorfpädagogik begründenden Allgemeinen Menschenkunde: »Und erst mit der Geschlechtsreife beginnt dann so recht die Anlage dafür, auch das in der Welt zu finden: Die Welt ist wahr« (9. Vortrag). Seine »Dreigliederung des jugendlichen Lebensalters« – erstes Jahrsiebt: Die Welt ist moralisch (gut); zweites Jahrsiebt: Die Welt ist schön; drittes Jahrsiebt: Die Welt ist wahr – scheint dem Erzieher in dem heutigen schwindelerregenden Zivilisationsbetrieb zwar einen gewissen Halt, eine erste Orientierung für sein pädagogisches Vorgehen zu bieten, aber die Begriffe »moralisch – schön – wahr« sind heute wirklich alles andere als gesichert! Sie sind umstritten, ja umkämpft. Und wir Waldorflehrer sollen darauf unsere Pädagogik aufbauen!

Der junge Mensch verlangt aber in der Zeit seiner Adoleszenz nach Wahrheit, nach dem Erlebnis: Ja! Das ist wahr! Wenn sich das Erlebnis nicht einstellt, geht die Sache ihn nichts an, die gerade verhandelt wird. Er langweilt sich sofort. Das Wahrheitserlebnis kann ganz innerlich sein, wird meistens gar nicht in Worten geäußert. Es genügt nicht, dass nur etwas Richtiges gesagt wird. »Wahr« ist viel mehr als »richtig«. An dem Beispiel einer Vorstellungsübung in der Geometrie möge das deutlich werden.

Eine kleine Vorstellungsübung

Wir stellen uns einen Würfel vor und bilden in der Vorstellung die Mittelpunkte aller seiner Flächen. Dann verbinden wir jeden dieser 6 Punkte mit jedem anderen durch eine Gerade. Dadurch gewinnen wir eine bestimmte Anzahl solcher Geraden. Wie viele? Für Ungeübte ist es gar nicht leicht, die richtige Zahl zu ermitteln. Es sind 15 Geraden. Nun schauen wir uns innerlich die Figur an, die durch die Geraden im Innern des Würfels gebildet wird. Wir »erblicken« einen Oktaeder, der 12 Kanten, 8 Flächen und 6 Ecken aufweist, während unser Würfel 12 Kanten, 6 Flächen und 8 Ecken hat. Was für eine interessante Beziehung! Wenn ich mich gut konzentrieren kann, sehe ich allmählich die beiden Figuren ganz klar »vor mir«. Und möglicherweise gefällt es mir sogar, wie der Oktaeder so schön in dem Würfel sitzt. Ja, es wäre eine Bereicherung für den Schüler, wenn er sich über die Harmonie der Beziehung zwischen den beiden geometrischen Körpern und über die Schönheit dieses inneren Bildes freuen könnte. Wir sehen, dass es zunächst einige Mühe kostet, die Vorstellungen richtig auszuführen und zu der richtigen Zahl der Verbindungsgeraden zu kommen. Schließlich gelingt es hoffentlich jedem, die in den Würfel eingeschriebene Figur des Oktaeders zu »sehen«. Damit wäre die gestellte Aufgabe richtig gelöst, richtig im Sinne von »fehlerfrei«.

Wie Wahrheit erfahren wird

Nun kann sich aber – wenn man sich genügend Zeit lassen darf – eine nächste Phase anschließen. Die Gewissheit, dass ich das »Richtige« vorstelle, bewirkt eine innere Ruhe in mir, und ich kann mich einer weiteren Betrachtung der Figur und der genannten Zahlenverhältnisse widmen und über die Richtigkeit hinaus ihre Schönheit erleben. Es ist so, als ob ich erst damit eine Art persönliche Beziehung zu der Sache aufnehmen würde, und ich fühle und sage vielleicht nach einer Weile: Ja, es stimmt. Mit diesem Wort »stimmen« kommt ein Urteil zum Ausdruck, das aus einer tieferen Schicht meines Wesens aufsteigt als die einfache Feststellung der Richtigkeit meiner Vorstellungen. Wenn es »stimmt«, spüre ich, fühlend, urteilend, dass ich selbst auch »gestimmt« bin, etwa so, wie eine Geige gestimmt wird. Ein Wohlgefühl stellt sich ein. Damit wäre bereits der Anstoß gegeben für eine dritte, noch tiefer liegende Erfahrung, die sich nun noch anschließen kann, die sich aber nur bildet, wenn kontemplativer Spielraum gegeben wird: In meinem Innern erfahre ich die Übereinstimmung meines Denkens mit einer Gesetzmäßigkeit in der Welt. Mein Denken muss also denselben Ursprung haben wie die Welt, mein Inneres ist eins mit der Welt, Innen und Außen sind eins. Wohl nur schattenhaft tritt diese Erfahrung auf; aber wenn sie auch nur leise empfunden wird, – bei ihr handelt es sich um die Erfahrung der Wahrheit!

Das Wahre wollen

Erst wenn der Erkenntnisvorgang bis zu dieser Erfahrung gediehen ist, ist er wirklich abgeschlossen und stillt die tiefe Sehnsucht des heranwachsenden Menschen. Ohne diese Erfahrung hinterließe er ein Gefühl der Leere. Dann erlahmt das Interesse, Zweifel und Skepsis erfüllen die Seele und untergraben das Daseinsvertrauen und die Willenskraft.

Was anderes soll damit gemeint sein, wenn Steiner von der Anlage des Jugendlichen spricht, »auch das in der Welt zu finden: Die Welt ist wahr«? Das scheint ja das Wesentliche im reiferen Jugendalter zu sein: das Wahre finden. Wahre Freundschaft, wahre Liebe, Wahrheit in der Wissenschaft, die Wahrheit über Stalin und Hitler, die wahre Kunst, das wahre Leben! Zusammenfassend: die Wahrheit der Welt.

Da stehen dann zwei große Fragen vor der Jugendseele: Was meine ich, wenn ich sage, die Welt ist wahr oder unwahr? Und wie gelange ich zu der Wahrheit? Ohne Hoffnung auf eine mögliche Beantwortung dieser Fragen fühlt sich der Mensch wie gelähmt. Doch schon eine so bescheidene Wahrheitserfahrung wie die an der Vorstellungsübung mit dem Kubus flößt ihm Lebenskraft ein. Und wir können daran erkennen, dass »Wahrheit« nicht irgendwo in einem »Außen« gefunden wird, sondern dass man sich ihr in einem dreistufigen Prozess im eigenen Innern zu nähern versuchen kann wie einer verborgenen Quelle. Blaise Pascal hat darüber etwas Geheimnisvolles gesagt: »Wie Jesus Christus unerkannt unter den Menschen geweilt hat, so weilt ebenfalls die Wahrheit ohne äußerliches Kennzeichen unter den gewöhnlichen Meinungen, so die Eucharistie unter dem gewöhnlichen Brote.« Es scheint, als ereigne sich die Wahrheit in mir nicht so sehr in der Weise eines Bewusstseinsvorganges, als vielmehr in Gestalt eines Willensaktes: Wenn ich das Wahre denke, dann will ich es schon.

Die Wahrheitsfindung im Unterricht

Natürlich stehen dieselben Fragen vor der Seele des Lehrers, der sich auf den Unterricht vorbereitet: Wie führe ich meine Schüler zur Wahrheit? Weiß er denn, wo die Wahrheit liegt? Kennt er das wahre Leben, weiß er die Wahrheit über Cäsar und Napoleon oder über die Bienen, ist er überhaupt selber wahr? Ist er ein wahrer »Lehrer«? Gar ein wahrer Mensch? Kann ein heutiger Lehrer noch so sprechen wie Thomas von Aquin vor 800 Jahren: »Die größte Wohltat, die man einem Menschen erweisen kann, besteht darin, dass man ihn vom Irrtum zur Wahrheit führt«?

Was für eine wunderbare Sicherheit spricht aus diesem Satz! Ein Unterricht, aus solcher Einstellung den jugendlichen Schülern gegenüber heute geführt, könnte allerdings leicht scheitern. Der philosophische Diskurs und die Menschheitsgeschichte der letzten Jahrhunderte haben uns ja gründlich darüber belehrt, wie leicht die Meinung, im Besitz der Wahrheit zu sein, zu Dogmatik und innerer Unbeweglichkeit führt.

Zudem vermag eine starke Lehrerpersönlichkeit manche Schüler so zu beeindrucken, dass sie in eine innere Abhängigkeit von dem Lehrer geraten können. Als das höchste Gut aber muss dem Lehrer die Unabhängigkeit des Schüler­urteils gelten. Denn nur wenn die Wahrheit durch die eigene Urteilskraft erfahren wird, erwacht jene belebende Kraft in der Seele, die schließlich in der »Geburt« des ICH zur Vollendung der Jugendentwicklung führt.

Die von Rudolf Steiner empfohlene methodische Gliederung jedes Hauptunterrichts in drei Teile – »Schluss – Urteil – Begriff« – weist diesen Weg zur inneren Freiheit des Schülers, wie ich ihn in der Beschreibung der Vorstellungsübung am Würfel schon zu bahnen versucht habe:

1. Ausgangspunkt ist die Begegnung mit der Tatsache, dass es 15 Verbindungsgeraden sind, im »Schließen«. Es ist richtig, was ich mir vorstelle; ich komme mit meiner Vorstellung zurecht. (Über die Berechtigung der Bezeichnung »Schließen« kann hier nicht verhandelt werden; nicht gemeint ist »Schluss« im Sinne der »conclusio«.)

2. Ich beurteile, was ich festgestellt habe. Ich verweile in dem Erlebnis. Durch die Kraft meines Urteilens mache ich mir die Sache »zu eigen«. Das ist ein komplexes inneres Geschehen, das hier nicht mit wenigen Worten bestimmt werden kann.

3. In dem kontemplativen Prozess der Begriffsfindung – am nächsten Morgen nach dem Schlaf – erfahre ich in mir die Ahnung der Einheit von Welt und Ich. Auf diese Wahrheit allein kann der jugendliche Mensch sein Daseinsvertrauen stellen. Sie bedeutet: Die Welt ist wahr.

Auf die Suche kommt es an

Der Schüler und der Lehrer sind also gemeinsam auf dem Weg. Bilden sie gemeinsam aus einer vollständigen Anschauung der gesamten Herz- und Kreislauftätigkeit heraus einen wahren Begriff des Herzens, der mit der Vorstellung einer Pumpe kaum etwas zu tun hat, so werden sie mit ihrem Herzbegriff, indem sie ihn durch die Welt tragen, einen wohltuenden Einfluss auf das allgemeine Verständnis des Herzens und damit sogar auf die weitere Entwicklung des Herzens haben.

Denken sie gemeinsam: Vom Ursprung her ist der Mensch ein wildes Wesen, das domestiziert werden muss, dringen sie also nicht zum wahren Kindheitsbegriff vor, so werden sie gewiss Einfluss nehmen, zum Beispiel auf die Entwicklung von Kindern. Begriffe gestalten die Welt, denn in Wahrheit sind sie geistige Willenskräfte.

Vor langer Zeit schrieb Gotthold Ephraim Lessing die berühmten Zeilen: »Nicht die Wahrheit, in deren Besitz irgendein Mensch ist oder zu sein vermeinet, sondern die aufrichtige Mühe, die er angewandt hat, hinter die Wahrheit zu kommen, macht den Wert des Menschen. Denn nicht durch den Besitz, sondern durch die Nachforschung der Wahrheit erweitern sich seine Kräfte, worin alle seine immer wachsende Vollkommenheit bestehet. Der Besitz macht ruhig, träge, stolz. – Wenn Gott in seiner Rechten alle Wahrheit und in seiner Linken den einzigen immer regen Trieb nach Wahrheit, obschon mit dem Zusatze, mich immer und ewig zu irren, verschlossen hielte und spräche zu mir: ›Wähle!‹ Ich fiele ihm mit Demut in seine Linke und sagte: ›Vater, gib! die reine Wahrheit ist ja doch nur für dich allein!‹«

Zum Autor: Dr. Peter Guttenhöfer war Oberstufenlehrer an der Freien Waldorfschule Kassel für Deutsch, Geschichte, Kunstgeschichte; Mitbegründer des Lehrerseminars für Waldorfpädagogik Kassel und Lehrbeauftragter an der Universität Kassel; weltweit tätig in der Lehrerbildung und Schulberatung.

Literatur: Rudolf Steiner: »Die menschliche Innenwelt ist das Innere der Natur.« In: Goethes Weltanschauung in seinen ›Sprüchen in Prosa‹, Stuttgart 1967, XVIII, S. 239 | Blaise Pascal: Pensées, 2. Abt., 13. Artikel, Nr. 11. | Sentenzen des Thomas von Aquin, Deutsch von Josef Pieper, München 1965. Zitiert nach W. Drews, Gotthold Ephraim Lessing, Reinbek 1962