Wer erzieht hier wen?

Valentin Wember

Wie stärkt man ein schwaches Gedächtnis? Die Leistung des Gedächtnisses hängt von unserer Ich-Präsenz ab. Ein gutes Mittel ist deshalb – Rudolf Steiner zufolge – die genaue, wache Beobachtung.

Je bewusster und je genauer die Beobachtung, desto mehr ist das Ich beteiligt. Die Folge: Das Gedächtnis kräftigt sich – nicht von heute auf morgen, aber nach längerem Training mit erstaunlichem Effekt. Ein gutes Gedächtnis ist das Kind einer guten Beobachtung. Und eine gute Beobachtung ist eine solche, bei der das Ich nicht wegträumt, sondern anwesend ist. Was man nur nebenbei sieht, vergisst man leichter als das, was man sorgfältig anschaut.

Noch stärker wird das Ich wirksam, wenn sich an die Beobachtung intensive, lebhafte Gefühle anschließen. Je intensiver die gefühlsmäßige Anteilnahme, die ein Kind an der Erzählung von Cäsar erlebt, desto größere Bedeutung hat das Aufgenommene. Was ein Kind kalt lässt, hat für es kaum einen Wert.

Als Lehrer muss man mit diesem Sachverhalt rechnen. Das eine Kind hört Beethovens Violinkonzert und ist davon so berührt, dass es unbedingt lernen will, Geige zu spielen. Ein anderes Kind hört die gleiche Musik, ohne dass sie eine starke Wirkung hinterlässt. Und genau das muss man akzeptieren. Die Tiefe eines Eindrucks lässt sich nicht erzwingen. Aber auf die Tiefe des Eindrucks kommt es an. Sie ist entscheidend für die Bedeutung, die das Wissen hat.

Was also entwickelt werden muss, ist vor allem ein lebhaftes Interesse. Aber die Interesse-Kraft ist in erheblichem Maße davon abhängig, wie »präsent« sich die Seele eines Menschen in dessen Körper fühlt.

Wenn Kinder Wissenspakete werden

Je umfänglicher, je lebendiger und je freier das Interesse, desto nachhaltiger das Lernen. Erzwungenes Interesse ist Pseudo-Interesse. Vor den Konsequenzen dieses Sachverhaltes schreckt man allerdings so sehr zurück, dass man sie ausblendet. Sie würden das übliche Lern-System sprengen. Denn auch wenn man es ungern zugibt: In den Hirnen von uns Lehrern und Eltern führt eine verquere Vorstellung immer noch ein Zombie-Dasein: die »Schule« als Verpackungsstation mit den Kindern als Paketen: In jedes Paket ist möglichst viel Wissen einzupacken. Ein »gutes« Paket ist ein gut gefülltes Paket. Prüfungen sind dann wie Weihnachten: Pakete auspacken. Und da »Wissen« abzupacken nicht mehr modern ist, packt man besser »Kompetenzen« ab: Statt Wissen von der Französischen Revolution die Kompetenz, mit der Französischen Revolution angemessen umgehen zu können. – Für die zu bepackenden Pakete ändert das nicht viel: Die Kinder müssen etwas lernen. Tatsächlich aber entspricht es ihrer Natur, etwas lernen zu wollen. Nur: Nicht jeder will das Gleiche lernen. Schliemann wollte alles über Troja lernen, er wollte Sprachen lernen. Man stelle sich vor, man hätte ihm das von außen abverlangt. Aber genau dieses genormte Abverlangen geschieht – in abgeschwächter Form – millionenfach durch das Schulsystem, das der internationale Berater und Kunstprofessor Ken Robinson kritisiert. Befördert wird es durch Bücher über das, was man angeblich alles wissen muss.

Die richtige Konsequenz aus dem Durchschauen eines falsch aufgezogenen Systems ist allerdings nicht Gleich­gültigkeit gegenüber dem Wissen. Die Konsequenz ist nicht: »Wissen ist nicht wichtig«. Im Gegenteil: Man kann gar nicht genug wissen. Aber alles hängt davon ab, dass es »echtes« Wissen ist, entstanden aus echtem Interesse. Begeisterung ohne Wissen ist blind. Wissen ohne Begeisterung ist tot. Totes Wissen kann dauerhaft eine Seele ruinieren und tut das offensichtlich auch.

Das Vorbild ist entscheidend

In der Pädagogik Steiners geht es vor diesem Hintergrund um ein Doppeltes: Toleranz gegenüber faktischen Interessen-Differenzen bei den Schülern, aber gleichzeitige intensivste pädagogische Arbeit daran, die Interesse-Kapazität bei jedem Schüler grundsätzlich zu vergrößern und zwar in den drei grundlegenden Parametern: Interessen-Weite, Interessen-Tiefe, Interesse-Dauer.

Wie das?

Die Antworten, die Steiners Pädagogik gibt, sind vielfältig. Im Folgenden ein zentraler Punkt: Jedes Kind will lernen, so wie es in früher Kindheit gehen lernen wollte. Der Impuls dazu kommt von innen. Aber der Impuls wird nur aktiviert, wenn das Kind Erwachsene um sich hat, die aufrecht gehen. Das Kind ahmt das aufrechte Gehen nach, weil es dies nachahmen will. Das Nachahmen ist die Ur-Form des Lernens. Als basale Form des Lernens bleibt es immer im Hintergrund bestehen, auch wenn weitere Formen des Lernens hinzutreten.

Wie tief das Prinzip des »Lernens durch Nachahmung« im Menschen verankert ist, wurde mit der Entdeckung der Spiegel-Neurone deutlich. Wenn wir einem anderen Menschen beim Sprechen zuhören, sprechen wir selbst unbewusst mit. Genauer: Im Gehirn werden dieselben Nervenmodule aktiviert, die beim eigenen Sprechen aktiviert wären. Geschieht dieses »Mitsprechen« oder »Spiegeln« im Gehirn wiederholt, werden auch hier die entsprechenden Kanäle verstärkt.

Jede Mine, jede Geste, jede Bewegung der Erwachsenen wird vom kleinen Kind nicht nur wahrgenommen, sondern nachgemacht, wenn auch teilweise nur im Gehirn, aber im Laufe der Kindheit dann immer mehr auch in ausgeführten Bewegungen der Händchen und Beine, des Kopfes oder der Sprachwerkzeuge.

Bei dem Erwachsenen drückt sich aber letztlich jede seiner seelischen Eigenschaften in seinen Bewegungen, seinen Gesten, seinem Tonfall und in seiner Mimik aus. Jedes Engagement und Interesse genauso wie jedes Desinteresse. Jede Einstellung zu seiner Arbeit genauso wie seine Grundeinstellungen zum Leben oder zu seinen Mitmenschen. Vom Kind wird all das unbewusst wahrgenommen und nachgemacht: in den Spiegel-Neuronen. Auf diese Weise entstehen neuronale Prägungen. Diese Prägungen sind nicht endgültig oder absolut. Aber es handelt sich doch um Dispositionen.

Ein Kind, das nur Gesten des Desinteresses, des lustlosen oder erzwungenen Lernens in seiner Umgebung bei Eltern oder Lehrern wahrgenommen und imitiert hat, prägt sein Gehirn anders als ein Kind, das Mimik, Gestik, Bewegung, Tonfall wahrnehmen und nachahmen konnte, die Ausdruck von feurigem Interesse waren.

Dazu Steiner in einem Vortrag in Stuttgart am 8. April 1924: »Namentlich das, was von den Eindrücken der Menschen der Umgebung kommt, ob wir uns langsam bewegen in der Umgebung des Kindes, und dadurch die Lässigkeit unseres Geistig-Seelischen offenbaren, ob wir uns stürmisch bewegen in der Umgebung des Kindes und dadurch die Wucht unseres eigenen Geistig-Seelischen offenbaren, das alles wird von dem Kinde fast mit derselben Intensität aufgenommen, mit der sonst die Eindrücke, die auf das Sinnesorgan wirken, von diesem Sinnesorgan aufgenommen werden (...) und ohne dass Überlegung dazwischentritt, kommen die Willensimpulse unmittelbar wie Reflexerscheinungen beim Kinde zutage.«

Vor diesem Hintergrund wird verständlich, wie wichtig es für Steiner war, dass die erwachsenen Erzieher sich vor allem eines klarmachen: Sie sind – gegenüber einem kleinen Kind genauso wie gegenüber einem Jugendlichen – erzieherisch wirksam vor allem durch das, was sie selbst vor dem Kind tun. Und dabei ist der Begriff des Ausdrucks »Was man vor dem Kind tut« viel weiter zu fassen. Dazu zählen nicht nur die deutlich sichtbaren Handlungen, sondern auch die subtilen, wie Gesten, Blicke oder Tonfall. Das aber heißt: Der Erwachsene ist – ob er will oder nicht – allein schon durch das wirksam, was er ist. Er ist wirksam durch seinen Charakter, weil dieser sich in Mimik, Gestik und Tonfall ausdrückt.

Steiner verwies auf die Konsequenzen: Wer als Erwachsener eine Interesse-Schwäche bei sich identifiziert und daran arbeitet, richtet sich in diesem Punkt seelisch auf. Und genau dieser seelische »Aufrichte-Prozess« ist es, den das Kind oder der Jugendliche nachahmt. Der Erwachsene lebt dann dem Kind vor, was dessen eigenes Projekt ist: sich zu entwickeln. Der Päda­goge wirkt also – so Steiner – nicht nur durch das, was er sich bereits in der Vergangenheit erarbeitet hat, sondern er wirkt auch – und vor allem – durch das, was er sich aktuell neu erarbeitet. Er muss auf einer höheren Stufe dem Kind vorleben, was dieses lernen soll. Das Entwickeln von Interesse ist nur ein Beispiel.

Lehrer müssen Interesse trainieren

Aus diesem Grundprinzip werden einige Einrichtungen und Settings der Waldorfpädagogik verständlich.

Das Klassenlehrer-Prinzip etwa und vor allem die wöchentlichen Lehrerkonferenzen. Eingerichtet wurden sie mit drei Hauptaufgaben:

• Woche für Woche sollten sich die Lehrer mit einzelnen Kindern befassen. Sie sollten gemeinsam nicht einfach die Leistungen der Schüler besprechen, sondern verstehen wollen, wie die einzelnen Kinder »ticken«. Sie sollten die Konstitution der Kinder besser verstehen, um sie besser fördern zu können. Für die Lehrer ist das eine Interesse-Schulung sondergleichen.

• In gleicher Weise sollten sich die Lehrerinnen und Lehrer wöchentlich austauschen über die Konstitution der verschiedenen Klassen.

• Drittens sollten sich die Lehrerinnen und Lehrer austauschen über ihre pädagogischen und fachlichen Entdeckungen. So hielt es Steiner für außerordentlich wichtig, dass die damaligen Kolleginnen und Kollegen die Forschungsarbeiten, die etwa Kolisko, Baravalle und andere erbracht hatten, zur Kenntnis nahmen und besprachen. Denn das bedeutete ein regelmäßiges und herzliches interkollegiales Interesse-Training auf dem Sachgebiet der Pädagogik als solcher und auf dem Gebiet der einzelnen Fächer. Fehlende Interesse-Kapazität bei den Schülern führte Steiner nicht ausschließlich, aber eben doch in erheblichem Maß, auf fehlendes Interesse der Erwachsenen gegenüber den Kindern und untereinander zurück. Man zeigt mit dem Finger auf die Kinder: »Die haben ja kaum Interesse.« Aber man vergisst, dass gleichzeitig drei Finger auf einen selbst zeigen: »Wie sehr interessiert Ihr Lehrer euch gemeinschaftlich für uns?« Doch auch das Umgekehrte gilt: Wachsendes Interesse auf Seiten der Erwachsenen gegenüber den Kindern und untereinander wird von den Kindern nachgeahmt. Sie richten ihre Interessekraft auf an der sich aufrichtenden Interessekraft der Erwachsenen.

Wir können machen, was wir wollen: Letztlich erzieht sich das Kind selbst. Das Kind richtet sich selbst auf – am sich aufrichtenden Erwachsenen. Das Kind erzieht sich selbst – am sich erziehenden Erwachsenen.

Der Philosoph Fichte hätte kommentiert: Es handelt sich bei der Erziehungskunst Rudolf Steiners um eine Pädagogik des Ich.

Zum Autor: Dr. Valentin Wember war 30 Jahre als Waldorflehrer tätig. Seit 2012 arbeitet er als Organisationsberater in verschiedenen Schulen. Dieser Text ist ein redaktionell überarbeiteter Auszug aus seinem jüngst erschienenen Buch: »Die fünf Dimensionen der Waldorfpädagogik im Werk Rudolf Steiners«, Tübingen 2015, www.stratosverlag.de 

Literatur: K. Robinson: Begeistert leben. Die Kraft des Unentdeckten, Salzburg 2014; J. Bauer: Warum ich fühle, was du fühlst: Intuitive Kommunikation und das Geheimnis der Spiegelneurone, Hamburg 2005; R. Steiner: Die Methodik des Lehrens und die Lebensbedingungen des Erziehens, Dornach 1986