Sahnehaube oder Existenzgrundlage? Waldorfpädagogik und die Kunst

Andre Bartoniczek

Man stelle sich vor: In einer 11. Klasse fällt vier Wochen lang der Mathematikunterricht aus – welche Kollegen oder Eltern kennen nicht das Entsetzen: Prüfungen kommen näher, unverzichtbarer Stoff geht uneinholbar verloren, Forderungen nach sofortiger Behebung des Problems werden laut, ein schulisches Erdbeben droht. Und nun frage man sich: Was würde geschehen, wenn über denselben Zeitraum Eurythmie ausfallen würde? Ich überlasse es dem Leser, sich die Wucht der Proteststürme auszumalen …

Vor wenigen Jahren war ich Zeuge einer Debatte, in der Oberstufenschüler forderten, man möge die Kunst zugunsten der prüfungsrelevanten und damit nützlichen Fächer deutlich reduzieren – an mancher Schule ist das in der 12. Klasse bereits geschehen. Tatsächlich fallen gerade die Künste bei finanziellen Engpässen am ehesten Streichungen zum Opfer oder sind in Stundenplänen ohnehin schon Randerscheinungen. Bei aller wohlmeinenden Begründung der Bedeutung von Kultur: Haben wir unausgesprochen nicht doch immer ein wenig das Gefühl, dass sie eigentlich etwas Zusätzliches ist, was uns Freude macht und zum Leben irgendwie dazugehört, aber letztlich nicht hundertprozentig notwendig ist? »Es gibt ein kulturelles Paralleluniversum, und das scheint manchmal viele Galaxien entfernt«, schrieb die Süddeutsche Zeitung schon vor vielen Jahren (2.1.1999), und es gab sicherlich schon so manche Theateraufführung, Oper oder Ausstellung, die bei uns genau diesen Eindruck bestätigte. Bei genauerem Hinsehen ist unsere Gesellschaft geprägt von einem Misstrauen gegenüber dem Nutzen kulturellen Lebens. Durften die Bürger im alten Athen umsonst ins Theater – es war geradezu erwünscht, dass jeder die Gelegenheit bekam, sich geistig mit den zentralen Fragen des gesellschaftlichen und politischen Lebens zu beschäftigen –, müssen die Bühnen heute um Subventionen kämpfen. Für Teilchenbeschleuniger, Genetik, technische Neuerungen werden Milliarden ausgegeben, während Künstler und Kulturwissenschaftler – mit Ausnahme einer ganz kleinen Elite – sich immer aufs Neue legitimieren und um ihre materiellen Grundlagen fürchten müssen.

Aufschlussreich ist ein Ereignis bei den Festspielen in Salzburg: Im Juli 2011 sollte ein Mann die Begrüßungsrede für dieses glänzende Ereignis halten, der eine moralische Institution verkörpert und dessen Stimme weltweit gehört wird: Jean Ziegler, der Sonderbeauftragte der UNO für die Welt­ernährungssituation. Dann kam im April plötzlich die Nachricht: Ziegler wird wieder ausgeladen. Die offizielle Be- gründung war, er stehe in zu großer Nähe zu Muammar al-Gaddafi und man wolle ihn vor dadurch möglichen unangenehmen Angriffen auf seine Person schützen. Die Begrün- dung war herbeigezogen. Vielmehr liegt die Vermutung nahe, dass von Seiten der Hauptsponsoren Nestlé und Credit Suisse Druck ausgeübt worden war – Ziegler hätte eine Rede gehalten über den von den west­lichen Großkonzernen mitverantworteten Hungertod von täglich 37.000 Menschen in aller Welt: Alle fünf Sekunden stirbt ein Kind unter zehn Jahren, während die Weltlandwirtschaft das Doppelte der Weltbevölkerung ernähren könnte. Man stelle sich diese Rede in der Kulisse von roten Teppichen, Sektkübeln und prominentem Personal vor. Die Rede hielt statt dessen Joachim Gauck – er sprach über die Segnungen der Demokratie.

Die tägliche Katastrophe weltweiten Kindersterbens und der Hochglanz eines illustren Kunstfestes – dieser Kontrast mag zugespitzt sein, im Kleinen begegnet er uns aber immer wieder. Das Kulturleben empfindet man nicht selten als Sahnehäubchen auf den Realitäten des Alltags. Dieser Alltag ist entscheidend geprägt von unserem Bildungsleben – und auch da wieder: Ist es so ganz zufällig, dass es die Wirtschaft ist, die mit PISA und der Neuausrichtung der akademischen Bildung im »Bologna-Prozess« mit massiven gesellschaft­lichen Konsequenzen das Geistesleben zu verstärkter Effektivität antreibt?

Gedanken – Gefühle – Gene

Die Gründung der Waldorfschule mitten in der Revolutionszeit wurde als historischer Kulturimpuls verstanden, der ein freies Geistesleben initiieren und als Erziehungskunst das gesamte gesellschaftliche Leben durchdringen und anregen sollte. Wo stehen wir heute? Hat die Waldorfpädagogik einen Begriff davon, was Kultur für die Realität des menschlichen Lebens bedeutet? Wenn diese Pädagogik ein Kulturimpuls sein soll: Verstehen wir, wie Kultur zu einem Impuls werden kann? Es müsste in uns die Gewissheit von der Kraft eines Erlebnisses entstehen, wie es Rainer Maria Rilke gehabt hat, als er vor einer Apollo-Statue stand und schlagartig realisierte: »Du musst dein Leben ändern.«

Auf dem großen bundesweiten Waldorfkongress 2014 in Dresden brachte der Neurobiologe und Psychiater Joachim Bauer im Eröffnungsvortrag sein großes persönliches Staunen über einen rätselhaften Tatbestand zum Ausdruck: Die seelische Verbindung des Lehrers zum Schüler führt bei diesem zu Veränderungen seiner physischen Konstitution!

Wie ist es zu erklären, dass etwas, was es körperlich gar nicht gibt, in die Materie eingreift und diese umbaut? »Wie Beziehungen und Lebensstile unsere Gene steuern« heißt der Untertitel seines Buches »Das Gedächtnis des Körpers«. Bauer hat diese Beobachtungen nicht erklärt – sie sind aber geradezu das Nadelöhr für die Frage, warum Kultur sich auf echte Lebensrealitäten auswirken kann: Letztlich geht es darum, wie eine innere, geistige Tätigkeit sich in den äußeren, materiellen Tatsachen niederschlägt.

Leise werden – nach innen hören

An dieser Stelle möchte ich mit Ihnen, liebe Leserinnen und Leser, ein kleines Experiment unternehmen. Lesen Sie bitte einmal folgenden Satz: »Nicht müde werden, sondern dem Wunder leise wie einem Vogel die Hand hinhalten«. Und nun vergleichen Sie den Eindruck, den Sie beim Lesen gewonnen haben, einmal mit den Zeilen, wie sie die Dichterin Hilde Domin tatsächlich gesetzt hat:

                       Nicht müde werden
                       sondern dem Wunder
                       leise
                       wie einem Vogel
                       die Hand hinhalten

Was ist anders? Vielleicht geht es Ihnen auch so: Bei der ersten Fassung liest man die Worte in einem Zug durch, man nimmt in erster Linie den Inhalt auf und der ist ja eigentlich sehr vage und fast banal. Ganz anders die tatsächliche Gedichtfassung: Man hält durch die Zeilensprünge immer wieder inne, ruht mit der Aufmerksamkeit auf jedem einzelnen Satzteil, um dann neu auf die nächsten Worte zuzugehen. Plötzlich beginnen die Zeilen zu sprechen: Die erste Zeile ist keine Feststellung, sondern etwas wie ein Aufruf, ein Anstoßen der eigenen inneren Kräfte, dann tastet sich die Sprache weiter, um schließlich genau im Zentrum mit nur einem kurzen Wort den stillsten und zugleich stärksten Moment zu erreichen. Hier wird es wirklich leise, man wird an dieser Stelle in einen Zustand aktiven Hörens versetzt, ist selber auf intensive Weise präsent. Jetzt bekommt das Wort »Wunder« einen realen Inhalt: Wir nehmen etwas wahr, was gar nicht da ist.

Man kann sich ja einmal fragen: Wie nehmen wir eigentlich Stille wahr? Wir sind in gesteigertem Maß zu uns gekommen und haben unser Wahrnehmen sensibilisiert, nun richten wir uns nach außen und bewegen uns auf die Außenwelt zu: Da ist nichts zu erzwingen – der Vogel wäre sofort auf und davon –, wir können nicht zupacken, sondern uns nur von unserer Seite aus offen machen, die Begegnung anbieten, tastend, schrittweise suchend. Ein bemerkenswertes Erlebnis: Man tut, was man liest. Hier ist die Brücke: Der geistige Prozess des Lesens ist in Wirklichkeit nicht nur ein kognitiver Vorgang der passiven Informationsaufnahme oder intellektuellen Reflexion, vielmehr sind wir bis in physiologische Vorgänge hinein mit dem ganzen Menschen, also mit unserer Willenstätigkeit, mit Atmung, Blutzirkulation und Muskelkontraktion an der geistigen Tätigkeit beteiligt. Die Details und spezifischen Bedingungen dieser Vorgänge können hier nicht dargestellt werden – vielleicht kann man an dem kleinen Gedichtbeispiel aber erahnen, um wie viel direkter unsere geistigen und körperlichen Prozesse miteinander verbunden sind, als wir uns dessen in der Regel bewusst werden.

Wir erfahren an dem Gedicht einen plastischen, bildenden Prozess und werden einer Kraft gewahr, die man als den »Baumeister« unserer physischen Existenz auffassen kann: eine vitale Organisation, die bereits geistig ist, aber direkt in die materiellen Prozesse im Menschen hineinwirkt, die Rudolf Steiner »Äther-« oder auch »Bildekräfteleib« nennt. Erst wenn man diese plastischen Kräfte in den eigenen inneren Tätigkeiten wahrnehmen lernt, beginnt man nachzuvollziehen, wie die Verbindung von künstlerischer Tätigkeit und äußerer »Wirklichkeit« tatsächlich zustande kommt – und dann ist es keine Frage mehr, warum die scheinbar »unpraktischen« Fächer kein Luxus, sondern für das eigene Leben und dabei gerade auch für die Berufswelt so wertvoll sind.

Das Eigentliche ist unsichtbar

In den alten Texten der »Upanischaden« hat sich ein Dialog erhalten, der viel von dem enthält, worum es hier geht: In einem Gespräch zwischen dem Meister und seinem Schüler wird dieser aufgefordert: »Hole mir von dort eine Feige!«. »Hier ist sie, Erhabener!«, »Spalte sie!«. »Sie ist gespalten, Erhabener.« »Was erblickst du darin?« »Ganz feine Körner, Erhabener.« »Spalte eines von diesen Körnern!« »Es ist gespalten, Erhabener.« »Was erblickst du darin?« »Gar nichts, Erhabener.« »Gerade aus dieser feinsten Substanz, die du nicht wahrnimmst, gerade aus dieser feinsten Substanz erwächst dieser Baum. Glaube mir, was die feinste Substanz ist, hat die ganze Welt als Seele. Es ist das Selbst, es ist Atman, das bist du.«

Der Zeitgenosse würde dem »Meister« sofort entgegenhalten: Dein Bild stimmt ja nicht. Benutze ein Mikroskop und du wirst die nächsten kleinen Teilchen finden. Das trifft den Sachverhalt aber gar nicht, weil es das Bild nur verschiebt: Immer ist noch nicht beantwortet, was jenes Teilchen in seiner genetischen Struktur eigentlich so zusammengesetzt hat. Mit Hilde Domin muss man sich irgendwann eingestehen: Die Kraft, die diese Kernchen zusammenbaut, wirst du nie sehen, weil man sie gar nicht sehen kann – du kannst sie nur in deiner eigenen geistigen Tätigkeit finden.

Ein unbefangener Blick auf die Lebenstatsachen zeigt eigentlich immer wieder dies: Die größten Leistungen, die zuletzt äußerst konkrete, materielle Folgen zeitigen wie hier im indischen Bild der Feigenbaum, gehen oft aus den zartesten, unsichtbarsten, oft als Spinnerei und Illusion verrufenen Initialmomenten hervor. Es waren oft Sekundenerlebnisse, die später zu der Entwicklung und dem Bau ganzer Maschinenhallen geführt haben.

Die weltweit zum Vorbild gewordene, Kleinkredite an mittellose Menschen vergebende Grameen Bank ging zurück auf einen einzigen Augenblick, in welchem dem Wirtschaftsprofessor Muhammad Yunus in einer zufälligen Begegnung mit einer betroffenen Frau das Kernproblem heutiger Ökonomie bewusst wurde. Er wurde von der Bankenwelt ausgelacht – am Ende war es seine Bank, die die höchste Rücklaufquote von Krediten hatte, die es überhaupt gab. Die historisch folgenreichsten Innovationen sind von Menschen mit der Fähigkeit zur Kreativität ausgegangen.

Viel wäre gewonnen, wenn unsere Gesellschaft ein neues Verständnis jener unsichtbaren Kraft des Kulturellen und damit auch Vertrauen in sie gewinnen könnte. Deshalb ist für die Waldorfpädagogik das Künstlerische so wichtig – nicht, um Berufskünstler zu produzieren oder Nischen der Selbstverwirklichung zu bilden, in denen man der harten Lebenswirklichkeit ausweichen kann, sondern um die schöpferischen Kräfte zu fördern, aus denen dann zum Beispiel funktionierende ökonomische Systeme entstehen, die Kinder ernähren und nicht verhungern lassen.

Zum Autor: Andre Bartoniczek war Oberstufenlehrer für Deutsch und Geschichte an der Waldorfschule Stuttgart-Uhlandshöhe und ist heute Dozent an der Akademie für Waldorfpädagogik in Mannheim.

Literatur: J. Bauer: Das Gedächtnis des Körpers, Frankfurt 2004 | Upanischaden, Chandogya-Upanishad 6.12.1-3; 8.-6. Jh. v. Chr. | R.M. Rilke: Archaischer Torso Apollos, 1908 | R. Steiner: Theosophie, Dornach 1978, S. 30 | P. Spiegel: Muhammad Yunus – Banker der Armen, Freiburg 2006