Ausbruch aus Platons Höhle

Holger Grebe

Denken, Fühlen und Wollen im Geschichtsunterricht der Oberstufe

Manchmal ist das Leben ein Dosenöffner. Die Schüler der 12. Klasse an der Freien Waldorfschule Balingen hatten wenige Tage vor meiner Geschichtsepoche in Klasse 11 die berühmte Farce »Wir sind noch einmal davongekommen« des amerikanischen Dramatikers Thornton Wilder auf die Bühne gebracht. Das hochaktuelle Schauspiel zum Thema Mensch und Katastrophe, 1942 mitten im Weltkrieg zu Papier gebracht, bietet reichlich Anlass, kritisch auf die Hauptfigur Mr. Antrobus und seine kleinbürgerliche Familie zu blicken. Zwar überlebt das ewig streitsüchtige Quartett alle Katastrophen – erst die Eiszeit, dann die Sintflut und zuletzt einen Weltkrieg. Aber der »Erfinder des Rades« – zugleich das Urbild des Menschen, wie sein Name verrät – leidet auch unter Selbstüberschätzung und Eitelkeit. Zudem ist er verführbar, nicht nur durch das Zimmermädchen. Ein moderner Mythos also.

Die Menschheitsgeschichte als Bilderbuch

Das Gespräch in Klasse 11 entzündete sich im Rückblick auf diese Theateraufführung an Fragen. Was kann man dem »Säugetier, Abteilung Mensch«, wie es bei Wilder heißt, zutrauen? Brauchen wir das Denken in großen Bildern heute noch? Seit wann gibt es die Lehre vom Menschen, die Anthropologie, als wissenschaftliche Disziplin? So haben wir uns zurückgetastet in die Zeit um 1500, in die Renaissance, und uns der Epoche des Mittelalters zunächst von ihrem Ende her genähert. Es gibt ja in der Geschichte nichts Langweiligeres als die Chronologie. Und Langeweile ist der Tod jeder Beziehungspädagogik. Ob es mir als Oberstufenlehrer gelingt, den »ganzen« Jugendlichen anzusprechen, in einer Entwicklungsphase, in der das Denken, Fühlen und Wollen oft besonders weit auseinanderfallen?

Um 1510 malt ein erst 26-jähriger Künstler aus Florenz in den Privaträumen von Papst Julius II. im Vatikan auf fast acht Metern Breite ein gewaltiges Wandfresko, auf dem eine Vielzahl meist antiker Wissenschaftler und Philosophen um die beiden Zentralfiguren Platon und Aristoteles vorbildhaft (für die damalige Gegenwart) dargestellt werden. Raffaels »Schule von Athen« (der Name wurde erst 1695 nachträglich gegeben) sagt viel aus über das Selbstverständnis der italienischen Künstler und Humanisten am Beginn der Neuzeit. Für sie war das Mittelalter, das »medium aevum«, nur eine finstere Übergangszeit zwischen dem Licht der Antike und deren Wiedergeburt (Re-naissance) in der eigenen Zeit. Raffael feiert das Wiederaufleben antiker Ideale, indem er den Sokratesschüler Platon und dessen Schüler Aristoteles in das Zentrum einer gewaltigen Wandelhalle, eines Tempels der Weisheit, stellt. Gesinnungsgenossen des Malers gründen bereits um 1460 die platonische Akademie, die von 387 v. Chr. bis 529 n. Chr. bei Athen fast ein Jahrtausend bestanden hat, nahe Florenz neu.

Staunen vor der Staffelei

Mehrere Tage steht dieses Bild auf einer hölzernen Staffelei im Klassenraum. Es lädt die Jugendlichen ein, sich unter die abgebildeten rund 50 Denker, Mathematiker und Astronomen zu mischen und in der Begegnung mit Platons Höhlengleichnis (ca. 380 v. Chr.) dem eigenen Denken auf die Spur zu kommen. An der Tafel steht: »Das Erbe der Antike: griechische Philosophie«.

Die Auseinandersetzung mit Raffaels Opus Magnum findet zunächst auf einer mehr gefühlsmäßigen Ebene statt. Gemeinsam staunen wir über die Originalität und den Detailreichtum des Bildes, mit dem der junge Maler verschiedene Generationen der vorwiegend griechischen Bildungselite zu einer Lerngemeinschaft auf der großen Treppenanlage zusammenzieht. Mal lustvoll, mal in meditativer Versenkung wird geforscht, geschrieben, gerechnet, diskutiert, während im Hintergrund Platon (mit der Rechten auf den Ideenhimmel deutend) und Aristoteles (auf den Horizont der Sinneswelt deutend) mit ihren polaren Denkweisen eine Art Mittelachse bilden. Wie geht das Wandbild mit dem Betrachter um? Welche Botschaft, welches Menschenbild werden hier vermittelt? Die Frage, ob dieser Optimismus in unserer »Postmoderne« noch lebt, verkneife ich mir.

Der eigentliche Arbeitsteil in diesem Hauptunterricht besteht dann darin, durch die Lektüre von Platons Höhlengleichnis ein Verständnis für dessen Ideenlehre zu gewinnen. Wenn die Denkkräfte im lesenden Nachvollzug beansprucht werden, wird es still. Die gleichnishafte Erzählung ist wunderbar konkret.

Die Menschen erscheinen hier als gefesselte Höhlenbewohner, in deren Rücken hinter einem Feuer Gerätschaften vorbeigetragen werden. Von diesen sehen sie auf der Höhlenwand nur die Schatten und halten allein diese für wahr und wirklich. Einem der Gefangenen werden die Fesseln gelöst. Der Aufweg des Befreiten, gegen Schmerzen und Widerstände, führt schließlich aus der Höhle hinaus ans Licht und zu einem stufenweisen Erkennen der wahren Wirklichkeit: »Jetzt will er lieber alles ertragen, als wieder im Banne der Trugmeinungen zu stehen und ein Leben jener Art zu führen«, so heißt es in einer Übersetzung des Philosophen Karl Jaspers. Es überrascht, dass der Befreiungsversuch an den übrigen Gefesselten dennoch in der Schlusspassage des Gleichnisses scheitert, ja sogar zu Morddrohungen führt.

Denkerfahrungen von 17-Jährigen

Indem die Schüler zunächst ihre Beobachtungen am Text artikulieren und hernach mit dem Bleistift in der Hand eine Skizze des Handlungsortes im Epochenheft entwerfen, wird dem seelischen Nachklang Raum gegeben. Zudem ruft die Zeichenaufgabe die Willenskräfte in den Lernprozess. Mit der Kreide werden verschiedene Entwürfe großformatig an der Tafel nebeneinander gesetzt und diskutiert. Die Stunde endet mit einer Sammlung von Fragen, die der Text aufwirft. Warum hält der Höhlenbewohner die Schatten für wahr? Sind wir alle Höhlenbewohner? Woher wissen wir, was wahr und falsch ist? Wer ist derjenige, der den Aufweg macht, und was widerfährt ihm? Tragen wir beide Figuren in uns, den Angepassten und den Rebellen?

Es ist wichtig, solche Fragen offen zu halten, ihnen nicht gleich die Energie zu nehmen, ja, sie sogar an der Tafel zu feiern, indem wir sie zuletzt nach ihrem Gewicht sortieren. Schließlich wollen wir beim Heranwachsenden den Übergang vom Denken zu einem Erleben des Denkens in Gang bringen und ein Gefrieren in vorschnellen Erklärungen vermeiden. Jaspers nennt den Text ein »Wunderwerk philosophischer Erfindung«. Was sagt das Gleichnis über die Erkenntnissituation des Menschen aus? Mit dieser Frage verlassen die Jugendlichen unsere »Wandelhalle«. Der Geschichtslehrer hofft, dass sie mit in die Nacht genommen wird.

Der frühe Vogel fängt den Wurm

Wie schön, dass wir uns am nächsten Morgen mit frischen Gemütskräften wiedersehen. Angeregt von verschiedenen Schülertexten versuchen wir Platons Gleichnis zu entziffern, indem wir vom Gesagten zum Gemeinten vorstoßen. Die Bilder des Gleichnisses konnten ihr Eigenleben unter den jugendlichen Denkern entfalten. Dabei war auffällig, dass es den meisten leichter fiel, den Aufweg als Erkenntnisvorgang, als Stufenweg zu den unvergänglichen »Urbildern« oder Ideen zu begreifen – als den trügerischen Charakter unserer Höhlensituation zu durchschauen. Was bedeutet es, wenn der moderne Mensch an die schattenhaften Sinneserscheinungen gefesselt ist und die Ideen als unwirklich und subjektiv abtut? Warum ist Platon für uns Gegenwartsmenschen eine Provokation? Betrachtet man Lernprozesse als Lebensprozesse, so zeigt sich in den Schüleräußerungen, an welcher Stelle das Wahrnehmen oder »Einatmen« eines Textes, über das Zerkleinern und Verdauen in einen selbstständigen Umgang mit der Fragestellung übergeht oder ob gar Neuschöpfungen möglich sind.

»Mich hat tief beeindruckt, dass die Leute damals schon in solchen Dimensionen und vor allem so weit gedacht haben«, schreibt Esther und bemerkt weiter: »Oft sind wir so erschlagen von den Eindrücken der Sinneswelt, dass wir nur auf diese achten und die Ideenwelt vergessen, das Vertrauen in sie verlieren.« Kate erkennt, dass »Platon den Menschen die Philosophie nahelegen wollte und überzeugt war, dass das der einzige Weg sei, im Licht zu leben.« Und Fanny bedauert: »Das Gleichnis besagt, dass der Mensch es vorzieht, nicht zu denken, um in seiner Unwissenheit weiter seinen Gewohnheiten nachgehen zu können.«

Philosophie ist wichtig

Aurora reagiert sehr existenziell auf unsere Platon-Studien und notiert Ansätze zu einer Selbstbefragung: »Warum setze ich mich nicht zu Hause in meinen Sessel und lese? Ich sollte mir mehr Zeit nehmen, nachzudenken über Dinge, die mich beschäftigen oder Dinge, die mich weniger betreffen. Konzentriert bei einem Thema bleiben, Anregungen durch das Buch bekommen, es jedoch auch weglegen … Gefühle in mir beobachten, Bilder in meinem Kopf hervorrufen und tief durchatmen. Philosophie ist wichtig und ich verschwende viel zu viel Zeit, mich damit nicht zu beschäftigen.«

Je nach Schüler sind verschiedene Seelenkräfte an den Äußerungen beteiligt. Respekt vor Platon. Mitgefühl für den Gegenwartsmenschen, dem es an Vertrauen in Ideen mangelt. Ein idealistischer Glaube an die menschlichen Entwicklungsmöglichkeiten, aber auch Willensimpulse, die eigene Selbsterziehung in die Hand zu nehmen.

Mit der Figur des Philosophen und Erziehers, der in Platons Gleichnis zur Blickwendung fähig ist und zum Aufweg ermutigen möchte, konnten sich die Schüler in der Tat anfreunden. Welche Wohltat, wenn es den Jugendlichen gelingt, die kühle Zuschauerhaltung der Gegenwart zu überwinden und die eigene Seele nicht nur als Resonanzraum, sondern ganz anfänglich auch als einen Schauplatz der Welt zu entdecken.

Den Weg vom Mythos zum Logos geht ja auch jeder Heranwachsende in seiner Biografie. Der behutsam denkende, mitfühlende und willentlich engagierte Jugendliche zeigt sich aber nur, wenn es gelingt, die »Abstraktion, vor der wir uns fürchten« (Goethe), zu vermeiden.

Zum Autor: Holger Grebe ist Oberstufenlehrer für Deutsch und Geschichte an der Freien Waldorfschule Balingen. Letztes Jahr erschien sein Essayband So lass ich mich nicht prüfen! Plädoyer für eine Verwandlung des bewertenden Blicks, edition waldorf, Kassel. Kontakt: holger.grebe@arcor.de