Mit Kopf, Herz und Hand

Sven Saar

Der dreigegliederte Mensch im zweiten Jahrsiebt

Als Seelenkräfte haben Denken, Fühlen und Wollen natürlich auch ein Zuhause im Körper des Menschen: Wir assoziieren damit den Kopf, das Herz und die Gliedmaßen. Im »Ersten Lehrerkurs« in der Allgemeinen Menschenkunde erläuterte Rudolf Steiner den Teilnehmern anhand einer Reihe von detaillierten anthropologischen Darstellungen (Schlaf- und Wachrhythmus, Wollen und Erkennen, Blutkreislauf, Nervenbahnen, Knochenbau und Atmung) wie Körper, Seele und Geist in der Erziehung des Kindes zusammenwirken.

Einerseits gilt es, die Aufgaben des Nerven-Sinnes-Systems genau zu unterscheiden von jenen der Herz-Lungen-Organisation und der Stoffwechsel-Gliedmaßenstruktur. Anderseits erfahren wir, dass keiner dieser Bereiche isoliert arbeitet. Das Denken ist zwar hauptsächlich Denken – aber immer steckt etwas Fühlen und zielgerichtete Aktivität (Wille) darin.

Steiner wies wiederholt darauf hin, dass alles, was wir tun, der gesunden Entwicklung dienen muss. Wie gehen die Waldorfschulen im Rahmen ihres Lehrplans mit diesem Auftrag um? Es wäre schon vom Ansatz her falsch, sowohl theoretisch als auch in der pädagogischen Praxis, die drei »Bestandteile« des menschlichen Wesens nacheinander abzuarbeiten. Sie sind ineinander verwoben und voneinander abhängig. Doch darf man auch nicht zu bequem sein: Wie sie sich gegenseitig beeinflussen, unterliegt klaren Gesetzmäßigkeiten. Das Verstehen dieser subtilen Zusammenhänge ist für Waldorflehrer eine Lebensaufgabe und hat konkreten Bezug zu allem, was im Klassenzimmer geschieht.

Die Struktur des sogenannten Hauptunterrichts – mehrwöchige Epochen – erlaubt uns, Inhalte nach und nach von verschiedenen Seiten zu beleuchten und dabei die unter- schiedlichen Seelenkräfte des Kindes anzusprechen. Die erste Begegnung mit einem neuen Fach geschieht oft gefühlsmäßig: Die Lehrkraft erzählt eine spannende Begebenheit oder demonstriert ein faszinierendes natur­wissenschaft­- liches Phänomen. Der entstandene Eindruck wird dann nicht gleich durch Erklärungen zerredet, sondern darf in der Seele nachschwingen. Erst am Folgetag wird er erinnert – das heißt, im wahrsten Sinne des Wortes nach innen geführt und destilliert: Die Klarheit des Denkens tritt nun dem ersten Erleben an die Seite und schafft Kontext. Es ergeben sich Fragen, die weiterführen und neugierig machen. Sie schaffen Lust auf Kreativität. Hier tritt nun – oft nach einer weiteren Nacht – der zielgerichtete Wille auf den Plan: Nun soll es dem Heranwachsenden gelingen, das Gelernte individuell umzusetzen – in einem Hefttext, einem Experiment oder einer Initiative, kurz: in einer Handlung!

Über die drei oder vier Wochen der Epoche werden sich Kopf, Herz und Hand die Waage halten, sich gegenseitig ergänzen und bestärken.

Schauen wir zum Beispiel auf die Hausbau-Epoche in der dritten Klasse: Die Kinder haben zu Anfang des Schuljahres mit Herzklopfen gehört, wie Adam und Eva aus dem Paradies verbannt wurden – keine religiöse Schulung, sondern imaginative Kulturgeschichte: Die ersten Menschen brauchten vor allem Schutz gegen Kälte und Nässe, sie bauten Behausungen und brachten das Feuer hinein. Hier wird klar an das Mitgefühl der Kinder appelliert. Am kommenden Tag schauen wir auf die verschiedenen Gegebenheiten, die entscheiden, wie diese ersten Wohnstätten beschaffen waren: Tierhäute und Stäbe in der Savanne, Höhlen oder Steingebäude in den Bergen, Ziegelhäuser in waldarmen Tälern. Hier spielt das Denken mit hinein: Wie passt sich der Mensch pragmatisch seinen Umweltgegebenheiten an? Immer logischer wird der Ansatz in den kommenden Tagen: Wie bekommen wir das Haus zum Stehen und zum Stehenbleiben, was für Ziegelverbände gibt es in welchen Ländern? Welche Gewerke arbeiten zusammen beim Bau eines uns vertrauten Hauses, und was muss der Bauleiter alles in der Übersicht haben? Wenn gleichzeitig die Geschichten der Schildbürger erzählt werden, wie sie beim Bau ihres Rathauses erst die Fenster vergessen und dann das Licht in Säcken hereintragen wollen, wird allen auf humorvolle Weise klar, wie wichtig das wache Denken auf einer Baustelle ist!

Immer wieder wird ein Bezug zur Gefühlswelt des Kindes hergestellt, oft im Unterrichtsgespräch, das einer neuen Präsentation vorausgeht: »Was ist denn das Schönste an deinem Haus?« Ich bekam einmal die Antwort: »Dass ich darin wohnen kann!« Hier zeigt sich, wie eng noch das persönliche Empfinden mitschwingt, wenn eigentlich über ganz informative Denkinhalte gesprochen wird.

Nach ein, zwei Wochen des Mitdenkens und -fühlens wollen die Kinder unbedingt ins Schaffen kommen. Der Wille engagiert sich auf zweierlei Art: Erstens bestreitet die Klasse gemeinsam ein Bauprojekt, je nach örtlichen Gegeben- und Gepflogenheiten mehr oder weniger ambitioniert. Hier wird zusammengearbeitet: Mörtel gemischt, Dachbalken gesägt, Löcher gebohrt, Ziegel geformt. Das einzelne Kind engagiert sich zum Wohl der Allgemeinheit und seine Kraft dient allen anderen.

Eine andere Willensäußerung finden wir im individuellen Bauprojekt: Jedes Kind darf ein eigenes Modellhaus entwerfen und bauen. Hier ist der Wille nun zielgerichtet, die ganzheitlich gestaltete Epoche findet ihren krönenden Abschluss.

Im Kopf fragt sich das Kind: Ist mein Haus sinnvoll gestaltet, ist mein Entwurf realisierbar? Das Herz will wissen, ob ich denn darin auch gerne wohnen würde. Und meine Hände werden nur geschickt und flink sein, wenn mein Wille tüchtig bei der Sache ist.

Wider das Klischee

Ein – zum Glück selten zutreffendes – Klischee der Waldorfpraxis ist es, dass morgens eine halbe Stunde gesungen, geflötet und rhythmisch gestampft wird, »um den Willen anzuregen«. Danach wird der Kopf eingeschaltet und muss eine Stunde »arbeiten«. Zum Schluss könne sich das Kind dann im Gefühlsbereich entspannen, indem es einem Märchen lauscht.

Oberflächlich mag einem manches so entgegentreten – aber die Wirklichkeit ist vielschichtiger, komplizierter und weitaus interessanter. Wenn wir zu Beginn der ersten Klasse mit den Kindern auf dem Hof große, gleichmäßige Formen laufen, regen wir tatsächlich über die Aktivität der Gliedmaßen den Nerven-Sinnes-Bereich zum Denken an – und können uns dabei auf die »Menschenkunde« berufen: »Der Gliedmaßenmensch [hat] die Aufgabe, den Kopfmenschen aufzuwecken.« Andererseits warnt Steiner davor, das zum Schema werden zu lassen: »Das Kind wird innerlich unwillig, [...] und wir veranlagen in ihm Krankheitsanlagen dadurch, dass wir wiederum auf die gymnastischen Übungen den gewöhnlichen Unterricht hinaufpfropfen!« (Weihnachtskurs für Lehrer, 1921/22).

Den vielbeschworenen »rhythmischen Teil« des Hauptunterrichtes gibt es gar nicht – zumindest ist er in keinem der vielen Steinerschen Vorträge erwähnt. Lehrer und Schüler bewegen sich den ganzen Schultag über in einem wohlüberlegten, rhythmischen Gefüge aus Denken, Fühlen und Wollen: Was genau will ich als Pädagoge mit jeder der geplanten Aktivitäten bewirken?

Früh am Vormittag bedarf es zunächst des Appells an das Gefühlsleben: Tief im Herzen soll das Kind beim Eintreten ins Klassenzimmer spüren: »Hier bin ich richtig!« Ein lächelnder Blick, ein verbindlicher Handschlag, ein kurzes Gespräch und das soziale Miteinander der Freunde und Freundinnen: Hier wird die Mitte des Menschen angewärmt. Jetzt erwecken wir das Denken: Durch Unerwartetes, durch Humor, durch aufregende Herausforderungen oder interessante Fragen: »Sagt mal, einer nach dem anderen: Was ist das Ungewöhnlichste, was ihr je gegessen habt?« – zum Beispiel am Beginn der Ernährungsepoche in der siebten Klasse. Sofort sind alle dabei und der Boden ist präpariert für die später folgende Saat der Unterrichtsinhalte.

Der Morgenspruch, die Gedichte, die Lieder und das Jonglieren – sie alle sind nicht Teil eines vagen »Aufweckens des mittleren Menschen«, sondern ein jedes Element wird mal so, mal anders täglich neu betont, um die denkerischen, emotionalen oder willensmäßigen Aspekte herauszuarbeiten. Im Detail wie im Großen ist die Waldorfpädagogik immer ganzheitlich.

Neugier und den Forschergeist wecken

Beispiel Astronomie-Epoche, siebte Klasse: Das Herz wird vor allem durch die poetische Ehrfurcht vor der Schönheit des Kosmos angesprochen. Die funkelnden Sterne, der einsame Mond, die wohltuende, lebenspendende Sonne – sie alle haben auch in der Realität der Dreizehnjährigen noch große Bedeutung und spielen im Epochengefüge eine wichtige Rolle – nicht nur zur Anwärmung, sondern als Lerninhalt. Gedanklich interessant wird es, wenn wir versuchen, aufgrund der Ekliptik die irdischen Jahreszeiten zu verstehen, oder den Einfluss des Mondes auf die Gezeiten. Schaffen wir es, die Reihenfolge der Sternbilder auswendig zu lernen, sie am Himmel zu erkennen, mit den gemessenen und geschätzten Zahlen und Fakten des Universums umzugehen? Und schließlich kommen wir auch selber in Bewegung, denn das ganze Universum tanzt ja mit und um uns herum: Auf einem großen Feld stellt sich die ganze Klasse so hin, dass sie ein Modell des Sonnensystems bildet: an der Peripherie die Sternbilder, in der Mitte die Sonne, die Erde und der Mond, vielleicht auch die Planeten. Die »Erde« beginnt die »Sonne« zu umkreisen, wobei sie sich auch noch um sich selber dreht. Dabei wird einem schnell schwindlig! Die schwierigste Aufgabe hat der »Mond«, der die Rotationen mitmachen muss, und dabei stets die »Erde« im Blick behält. So können wir durch unsere Eigenbewegung nachvollziehen, warum wir zum Beispiel »unser« Sternzeichen an unserem Geburtstag sicher nicht sehen werden: Die Sonne ist uns im Weg! Hier ersetzt die körperliche Bewegung die geistige Anstrengung: Ein nerven-sinnes-orientierter Jugendlicher versteht das auch leicht im Lehrervortrag, ein Anderer, der mehr im Tun zu Hause ist, wird durch eine dieserart vielfältig gestaltete Epoche gleich gut bedient.

An einem anderen Tag bewegen wir uns auf einer gedachten Linie von einem die Sonne darstellenden Basketball weg: Wie weit sind die Planeten entfernt, und durch welche Objekte lassen sie sich maßstabsgetreu repräsentieren? Hier gesellen sich denkerische Erkenntnis und staunendes Fühlen zur Aktivität der Gliedmaßen und in der Nachbereitung im Klassenzimmer setzt sich das fort: Das Erlebte muss sachlich geordnet werden, aber das eigene Gefühl dabei ist Teil der Erfahrung. Das staunende, ehrfürchtige Herz erwärmt unser Denken und motiviert uns, aktiv zu werden.

Eine wirklich effektive Unterrichtseinheit endet nicht mit der Pause, sondern streng genommen überhaupt nicht: Ein Lernender hört nicht auf zu lernen. Angeregt durch das in der Schule auf drei Ebenen Erlebte wird er neugierig, macht sich eigene Gedanken und lässt sich von ihnen vielleicht zu eigener Forschung anregen. Lernbegeisterung ist ein gefühlszentrierter Willensimpuls, der, um sich nicht in Oberflächlichkeiten zu verlieren, gedanklicher Strukturen bedarf. Die Zweitklässler, die freiwillig daheim enthusiastisch eine Zahlenreihe nach der anderen üben und sie sprühend vor Stolz mit roten Wangen der Lehrerin vorsprechen, haben das verinnerlicht: ein ganzheitlich erzogenes Kind lernt, sich selbst zu erziehen.

Dem Klischee des dreigegliederten Unterrichts ist die lebendige Realität vorzuziehen: ein am Heranwachsenden orientierter, bewusst auf den Einsichten der Menschenkunde begründeter, gesundend wirkender Ablauf, in dem Denken, Fühlen und Wollen gleichberechtigt in- und miteinander arbeiten können.

Zum Autor: Sven Saar ist nach dreißig Jahren Waldorflehrertätigkeit nun in der Lehreraus- und -weiterbildung aktiv. Er lebt und arbeitet vorwiegend in England.

Literatur: R. Steiner: Die gesunde Entwicklung des Menschenwesens. Eine Einführung in die anthroposophische Pädagogik und Didaktik. Weihnachtskurs für Lehrer, GA 303, Dornach 1987

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