Bildung als Hebammenkunst

Salvatore Lavecchia

Begegnung kann sich allein durch unendliches Vertrauen in unsere Freiheit ereignen. Sie verbindet nämlich einmalige, unnachahmliche Individualitäten. Sie darf nicht durch Normen, Theorien, Modelle, Module, Credit Points schablonisiert werden. Wie könnte sich sonst jenes gegenseitige, grenzenlose Schenken verwirklichen, das zwischen Lehrenden und Lernenden eine authentische Gemeinschaft bildet? Und wie könnte sonst Bildung fähig werden, Menschen zur Geburt der eigenen Freiheit zu begleiten?

Die Geburt der wahren Erkenntnis

Bildung ist Geburtshilfe für freie Individualitäten. Wer, unter den selbsternannten Reformern, empfindet ehrlich ernst Vertrauen in die Möglichkeit, dass Bildung heute allein als Hebammenkunst Sinn und Substanz schöpfen könnte? Heute wie noch nie erweist sich jene Wende als dringend, die Sokrates anregte, indem er sich als Hebamme der Wahrheit betätigte.

Platons Dialog »Theaitetos« inszeniert Sokrates als denjenigen, der, sich einer Hebamme vergleichend, die Geburt der wahren Erkenntnis bewirken möchte. Voraussetzung dieser Geburtshilfe ist aber die Tatsache, dass Sokrates dabei keine Erkenntnis gebären darf – so will es der Gott Apollon, der ihm diese Aufgabe anvertraute.

Warum darf Sokrates nur als Nicht-Wissender handeln, wenn er als Hebamme der Wahrheit wirken will? Bestimmt nicht deswegen, weil er Wahrheit nie geboren hat oder nie gebären könnte! Sonst hätte er nicht als Hebamme handeln dürfen; denn Hebammen dürfen nach der Göttin Artemis – Apollons Zwillingsschwester, die den Geburten vorsteht – nur Frauen sein, die selber geboren haben. Bedingung ist allein, dass sie nicht mehr gebären können.

Einerseits muss Sokrates selber die Wahrheit geboren haben, andererseits darf er jedoch nicht mehr gebären, sondern nur zur Geburt verhelfen: dies will die Hebammenkunst. Und durch diese Kunst wird Sokrates nicht nur zu einem wahren, sondern auch zum ersten modernen Lehrer, weil er in der Richtung des Bildungsweges eine Wende bewirkt. Mit und nach Sokrates will der Weg der Bildung nicht mehr bei den Lehrenden, bei Ämtern und Institutionen, sondern allein bei den Lernenden seinen Anfang nehmen. Sokrates ist die Morgenröte einer Zeit, in der Lernende gebären und Lehrende Geburtshilfe schenken.

Wie aus dem Nichts

Bei allen Geburten begegnet die Hebamme den einmaligen, unnachahmlichen Individualitäten der Mutter, des Kindes sowie der Situation, in der die Geburt sich ereignet. So soll sie stets auf das Individuelle lauschen, das sich bei jeder Geburt offenbaren will.

Folglich darf sie den Weg, der zur Geburt führen wird, nicht aus dem eigenen Wissen, aus der eigenen Erfahrung mechanisch ableiten und normieren. Wissen und Erfahrung, die bei unzähligen Geburten fruchtbar wirkten, könnten nämlich für die eine Mutter, für das eine Kind tödlich werden, denen hier und jetzt zu helfen ist. Deshalb muss die Hebamme jedes Mal das eigene Wissen gleichsam vergessen und die jeweilige Geburt, wie aus dem Nichts, in grenzenloser Offenheit für deren Individualität erleben und gestalten. Denn eine andere Frau muss gebären, ein anderes Kind will geboren werden, als jene Frauen und Kinder, denen dieselbe Hebamme in der Vergangenheit half. Gleichsam nichts wissend muss die Hebamme aus der Zukunft her handeln, einen unendlichen Raum der Freiheit, der Transparenz bilden, der die Individualität von Mutter und Kind unbeschränkt offenbar werden lässt. Die Hebamme darf also nicht sich selbst offenbaren und darstellen; sie soll, im Gegensatz, selbstlos anderen Individualitäten Geborgenheit schenken, nicht das Zentrum, sondern den grenzenlosen Umkreis der Geburt bilden. Folglich erfährt ihre Wahrnehmung bei jeder Geburt eine Umstülpung, und ihr Zentrum verschiebt sich in Mutter und Kind. Sie bildet für die Individualität von Mutter und Kind ein Wahrnehmungsorgan, das deswegen zur Geburt führt, weil die Hebamme von eigenen vergangenen Wahrnehmungen bewusst nichts wissen will. Wäre dies möglich, wenn die Hebamme nicht ein uneingeschränktes Vertrauen in die Individualität von Mutter und Kind sowie in die Kräfte üben würde, die zur Geburt führen? Könnte die Hebamme ohne dieses Vertrauen, ohne eine unendliche innere Geborgenheit Mutter und Kind die aktive, schöpferische Geborgenheit schenken, die Zukunft gebären kann?

Bildung im Geist des Sokrates

Deswegen darf Sokrates nur als Nicht-Wissender handeln, weil er dem Wissen der Anderen, nicht dem eigenen Wissen zur Geburt verhelfen soll. Und die Geburt ist für jedes Individuum einmalig und unnachahmbar, so dass Sokrates sie nicht aufgrund des eigenen Wissens ableiten und normieren kann. Wie eine Hebamme muss also auch Sokrates sich leer von jeglichem Wissen machen, das heißt, die eigene Erfahrung zu einem schöpferischen Nichts umbilden, das als Wahrnehmungsorgan für die Einmaligkeit des anderen Menschen wirken kann. Das andere Individuum, nicht Sokrates muss Erkenntnis gebären und dadurch die eigene Individualität offenbaren! Als Lehrer will Sokrates folglich das Zentrum der eigenen Wahrnehmung nicht in sich selbst, sondern in den anderen Menschen verlegen. Deswegen will er Fragen stellen, nicht Antworten geben. Denn die Antworten würde eben er, und nicht der Mensch geben, der sich bilden soll. Sokrates gestaltet seine Fragen so individuell nach der Einmaligkeit des jeweiligen Menschen, dass der andere Mensch selbst auf dem Weg zur Erkenntnis sie ebensogut stellen könnte.

Der andere Mensch darf mithin das eigene Gebären zunächst so erleben, als ob er allein, ohne jegliche Hilfe geboren, und Sokrates keinen Beitrag dazu geleistet hätte. Der Lehrer hat diese Geburt dadurch ermöglicht, dass er sich zur Frage verwandelte, die niemand hätte stellen können, außer jener einmalige Mensch.

Zum Autor: Salvatore Lavecchia ist Professor für Geschichte der Antiken Philosophie an der Universität von Udine und Dozent beim Master »Consulenza Filosofica di Trasformazione« an der Universität von Verona.